Genetik "Alle Menschen sind miteinander verwandt"
Der Genetiker Svante Pääbo über Geschichten, die das Erbgut erzählt – und unsere Gemeinsamkeiten mit dem Neandertaler
- 23.11.2011 - 17:50 Uhr
Der Sohn einer estnischen Chemikerin und eines späteren Medizinnobelpreisträgers wurde 1955 in Stockholm geboren. Heute ist er Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Wer sein Labor im dritten Stock nicht mit dem Aufzug erreichen will, durchsteigt eine mit Überhängen gespickte Kletterwand, die der begeisterte Sportkletterer Pääbo in der Eingangshalle anbringen ließ. Oben wird der Besucher vom Abguss eines Neandertalerskelettes begrüßt.
Svante Pääbo
Svante Pääbo: Weil wir wissen wollen, wer wir eigentlich sind. Und weil wir hoffen, die Geschichte werde es uns verraten.
ZEITmagazin: Wir Europäer sind Neandertaler, wenigstens zum Teil, haben Sie nun erklärt. Was genau haben Sie gefunden?
Stefan Klein
ZEITmagazin: Bisher dachte man, sie seien restlos verschwunden, weil der geistig überlegene Homo sapiens die Neandertaler als Freiwild betrachtete.
Pääbo: Ja. Wir haben aus Fossilien die Erbsubstanz von Neandertalern gewonnen und das Genom sequenziert...
ZEITmagazin: ...das heißt entschlüsselt.
Pääbo: Wenn Sie nun die Gensequenz der Neandertaler mit der von heutigen Menschen vergleichen, sehen Sie bei Europäern gewisse Übereinstimmungen – bei Afrikanern aber nicht.
ZEITmagazin: Einige unserer Vorfahren haben sich mit Neandertalern gepaart.
Pääbo: Das ist jedenfalls die einfachste Erklärung. Asiaten, die Ureinwohner Amerikas und Ozeanier zeigen denselben Befund wie Europäer. Vermutlich vermischten sich Neandertaler und moderne Menschen im Nahen Osten – nachdem die ersten modernen Menschen aus Afrika ausgezogen waren, auf die dort ansässigen Neandertaler trafen und bevor sich ihre Nachkommen über alle anderen Kontinente verteilten.
ZEITmagazin: Woher waren die Neandertaler gekommen?
Pääbo: Ebenfalls aus Afrika. Ihre Vorfahren hatten sich jedoch schon vor vielleicht 400.000 Jahren auf den Weg nach Norden gemacht.
ZEITmagazin: Normalerweise sind es männliche Eroberer, die sich eine einheimische Frau nehmen. Aber hier fühlten sich wohl eher die zugereisten Homo-sapiens-Frauen von gut gebauten Neandertalern angezogen, wenn ich Ihre Veröffentlichung richtig verstehe. In einem bestimmten Teil der DNA, den nur Frauen auf ihre Nachkommen übertragen, findet man kein Erbgut der Neandertaler.
Pääbo: Ja, aber das kann Zufall sein. Andere Befunde von den Geschlechtschromosomen sprechen dagegen: Sowohl Frauen als auch Männer hatten Sex mit Neandertalern – ob Frauen etwas mehr, können wir noch nicht sagen.
ZEITmagazin: Jedenfalls lebten moderne Menschen, also Homo sapiens, und Neandertaler längere Zeit nebeneinander.
Pääbo: Sehr lange Zeit. Der moderne Mensch erschien vor gut 100.000 Jahren im Nahen Osten. Die Neandertaler verschwanden dort vor vielleicht 60.000 Jahren.
ZEITmagazin: In Europa lebten sie sogar bis vor 30.000 Jahren. Zogen sie sich infolge eines Klimawandels nach Norden zurück?
Pääbo: Wir wissen es nicht. Vielleicht gab es eine Konkurrenz um Ressourcen, die der Neandertaler irgendwann verlor.
ZEITmagazin: Wir haben uns die Vorgeschichte als eine Art Prozession vorgestellt, in der immer bessere Ausführungen des Modells Mensch einander schön ordentlich ablösten. Doch neue Funde zeichnen ein ganz anderes Bild: Verschiedene Menschenformen bevölkerten gleichzeitig die Erde – als habe die Evolution mit verschiedenen Typen unserer Art experimentiert. Gerade erst erfuhren wir von Zwergmenschen, deren Überreste in einer Höhle der indonesischen Insel Flores aufgetaucht sind. In Anlehnung an die Figuren aus dem »Herrn der Ringe« nennt man sie Hobbits.
Pääbo: Sie wurden gerade einmal so groß wie heute ein Kleinkind.
ZEITmagazin: Und sie gingen erst vor 12.000 Jahren unter, als der moderne Mensch sich längst in diesem Erdteil ausgebreitet hatte. Voriges Jahr berichteten Sie dann von den Denisova-Menschen, einer unbekannten Art, die sich noch vor 40.000 Jahren in Sibirien herumtrieb. Wie sahen die aus?
Pääbo: Wir wissen nur, dass sie große Zähne hatten. Sehen Sie mal. (zieht aus einem Schrank eine durchsichtige Dose hervor, darin ein enormer Backenzahn) Russische Forscher haben den Zahn 2008 in einer sibirischen Höhle entdeckt. Mehr als dieser Zahn und ein Fragment eines kleinen Fingers war nicht zu finden. Doch mit Genanalysen konnten wir zeigen, dass es sich um eine bis dahin unbekannte Menschenform handelt – und dass diese Leute sich mit den Vorfahren heutiger Bewohner von Australien, Neuguinea und Ostasien paarten. In Zukunft werden wir aus solch minimalen Funden sicher noch viel mehr über die Bevölkerungsgeschichte erfahren.
ZEITmagazin: Hobbits mischen sich unter moderne Menschen, Neandertalerinnen begehren Denisova-Männer – mich erinnert das eher an ein Szenario aus einem Science-Fiction-Roman!
Pääbo: Aber es war der Normalfall. Einzigartig sind vielmehr die letzten 20.000 Jahre, in denen wir als Menschen allein auf der Welt waren. Ich frage mich, was wäre gewesen, wenn die anderen noch ein bisschen länger durchgehalten hätten? Hätten wir dann heute einen Rassismus, schlimmer als alles, was wir kennen? Oder würden wir uns dann weniger einzigartig fühlen, hätte sich die Trennung zwischen Menschen und Tieren verwischt?
ZEITmagazin: Ein Pessimist würde antworten, dass uns Menschen der lächerlichste Anlass genügt, um zwischen uns und den anderen eine Grenze zu ziehen.
Pääbo: Eben. Und dann würde der Pessimist sagen: Nachdem der moderne Mensch alle übrigen Menschenformen erfolgreich ausgerottet hat, kommen jetzt unsere biologisch nächsten Verwandten dran – die Schimpansen.
ZEITmagazin: Warum haben wir uns durchgesetzt? Die Neandertaler waren kräftiger und hatten größere Gehirne als wir. Sie pflegten ihre Kranken, bauten Hütten, fertigten Werkzeuge und Schmuck.
Pääbo: Aber sie sind nie hinaus aufs offene Meer gefahren, obwohl sie es vielleicht gekonnt hätten. So haben sie nie Amerika und Australien erreicht wie der moderne Mensch. Ihnen fehlte die Verrücktheit unserer Vorfahren: aufzubrechen, obwohl klar war, dass die meisten, die das Floß besteigen, untergehen werden. So haben wir die Erde bis in ihren letzten Winkel besiedelt und werden künftig vielleicht den Mars besiedeln. Wir hören nie auf. Wir sind eben ein bisschen wahnsinnig.
ZEITmagazin: Nicht zuletzt verdanken Sie dieser Art von Verrücktheit Ihre Karriere. Als Student machten Sie Schlagzeilen, als Sie im Alleingang die Erbsubstanz einer Mumie aus dem Berliner Pergamonmuseum entschlüsselten. Wie kamen Sie darauf?
Pääbo: Ich habe mich schon immer für das Altertum interessiert. So begann ich ein Ägyptologiestudium und träumte von Ausgrabungen. Doch als ich damals in Uppsala vor allem altägyptische Sprachen büffeln musste, brach ich ab und wechselte aus Verlegenheit zur Medizin. Während meiner Doktorarbeit erlernte ich die damals neue Methoden, DNA zu klonieren. Damit konnte man winzige Mengen der Erbsubstanz vervielfältigen, um sie zu analysieren. Ich fragte mich, ob sich wohl auch das Erbgut aus ägyptischen Mumien kopieren ließe. Also besorgte ich mir ein paar Proben.
ZEITmagazin: Wie fand Ihr Doktorvater das?
Pääbo: Er wusste es nicht, ich arbeitete nachts. Unter dem Mikroskop sah ich, dass in den alten Zellen tatsächlich noch Erbsubstanz war. Die beste Mumiensammlung gab es im damaligen Ost-Berlin. Ich fuhr hin, und auf Vermittlung meines alten Ägyptologieprofessors ließen sie mich tatsächlich an 23 Mumien ran. Bei einer konnte ich die DNA klonieren, es war die Mumie eines vor 2.400 Jahren gestorbenen Kindes. Erst habe ich das brav in der Zeitschrift der Ostberliner Akademie veröffentlicht. Ein Jahr später war die Mumie dann auf dem Titel von Nature...
ZEITmagazin: ...dem weltweit wohl angesehensten Wissenschaftsmagazin. Das war 1985.
Pääbo: Erst da merkte die Stasi, was geschehen war, und verhörte jeden im Museum. Als ich dann wieder nach Ost-Berlin kam, hatte keiner mehr Zeit für mich. Uppsala sei ein bekanntes Zentrum antisozialistischer Propaganda, hieß es.
ZEITmagazin: Für einen 29-Jährigen ist so viel Aufsehen ein schöner Erfolg. Drei Jahre zuvor hatte Ihr Vater, Sune Bergström, den Medizinnobelpreis gewonnen. Standen Sie als Sohn eines so berühmten Mannes unter besonderem Druck?
Pääbo: Nein, niemand wusste, dass ich sein Sohn war. Meine Mutter lebte nicht mit ihm zusammen, als Kind sah ich ihn nur samstags. Er erzählte zu Hause, dass er die Samstage im Labor verbringe, obwohl seiner Frau alles bekannt war. Aber kurz vor seinem Tod wusste noch nicht einmal mein Halbbruder von mir. Nach seinem Nobelpreis war ich darüber froh.
ZEITmagazin: Wollten Sie mit Ihren Genstudien eigentlich die wahren Verwandtschaftsverhältnisse der Pharaonen aufklären?
Pääbo: Ich träumte davon, fundamentale Fragen der ägyptischen Geschichte zu beantworten, über die Textquellen keine Auskunft geben. Kamen etwa mit Alexander dem Großen tatsächlich viele Griechen ins Land? Aber es hat nicht funktioniert.
ZEITmagazin: Warum nicht?
Pääbo: Die Mumien-Erbsubstanz ist zu stark abgebaut. Und wenn man sie unvorsichtig entnimmt, wird sie sehr leicht mit moderner DNA kontaminiert. Aber das wussten wir damals noch nicht.
ZEITmagazin: Die Nature-Veröffentlichung
beruhte auf einem Irrtum: Was Sie für die Gene eines
Pharaonenkindes hielten, waren in Wirklichkeit Ihre eigenen.
Pääbo: Der Nachweis der DNA in den alten Zellkernen
war schon richtig. Aber die Sequenzen kamen wohl von meinen Genen. Wir
haben diese Tatsache, dass die Sequenzen wahrscheinlich nicht alt waren,
ein paar Jahre später selbst veröffentlicht. Nach meiner Promotion
stand ich also vor der Frage: Sollte ich es weiter versuchen – oder doch
lieber etwas medizinisch Nützliches machen? Ich entschied mich für den
ersten Weg und ging in ein Labor in Berkeley, Kalifornien. Dort
arbeitete man am Erbgut von Quaggas.
Bei diesen ausgestorbenen Zebras kamen wir um das Problem der
Kontamination herum, weil die menschliche DNA anders aussieht. Dann habe
ich mit den Genen anderer ausgestorbener Tiere gearbeitet. Ich
untersuchte das Riesenfaultier, den australischen Beutelwolf, alle
möglichen Laufvögel.ZEITmagazin: Das war, bevor Jurassic Park ein Welterfolg wurde.
Pääbo: Der Roman von Michael Crichton, auf dem der Film beruht, war von unserem Labor inspiriert. »Alles begann damit, dass ein paar Wissenschaftler die DNA ausgestorbener Pferde aufgespürt haben«, heißt es im Buch.
ZEITmagazin: In Jurassic Park werden diese Geschöpfe wiedererweckt. Können Sie sich so etwas vorstellen?
Pääbo: Mit Dinosauriern?
ZEITmagazin: Sagen wir, mit Mammuts.
Pääbo: Nicht in dieser naiven Form. Da bräuchte man Zellen von einem gefrorenen Mammut, in denen jedes einzelne Gen intakt ist. So etwas wird man nie und nimmer finden. Aber mein Harvard-Kollege George Church geht ja mit einem anderen Szenario hausieren: Nachdem wir jetzt das Neandertalergenom kennten, lasse sich doch die DNA eines heutigen Menschen gewissermaßen in einen Neandertalerzustand umprogrammieren. Wenn man das Ganze in einer menschlichen embryonalen Stammzelle mache, könne man ein Neandertalerbaby erzeugen.
ZEITmagazin: Man bräuchte nur noch eine Leihmutter, die es austrägt.
Pääbo: Aber von allen technischen Schwierigkeiten einmal abgesehen – so etwas darf man natürlich mit menschlichem Erbgut nicht tun. Wenn ich Church das sage, antwortet er: »Gut, dann bauen wir eben ein Schimpansengenom um.« Als ob es das besser machte! Dann hätten Sie noch immer aus reiner Neugier ein menschliches Wesen erzeugt. Aber ich kann mir etwas anderes vorstellen: Man könnte ein paar Neandertalergene in erwachsene menschliche Stammzellen einschleusen und sehen, was sie dort tun.
ZEITmagazin: Wenn alles gut geht, würde sich aus den Stammzellen Organgewebe entwickeln. Dann hätten Sie die Neandertalerleber im Reagenzglas. Oder Neandertalerneuronen. Arbeiten Sie daran?
Pääbo: Im Moment nicht. Aber ich kann mir denken, dass es so kommt.
ZEITmagazin: Als wir uns vor ein paar Jahren das letzte Mal trafen, erzählten Sie, Sie wollten ein für die menschliche Sprachentwicklung zuständiges Gen namens FOXP2 in Mäuse einbauen. Was ist daraus geworden?
Pääbo: Sie sprechen.
ZEITmagazin: Und? Was sagen sie?Pääbo: Na gut, unsere humanisierten Mäuse reden nicht wirklich. Aber sie vokalisieren anders als normale Mäuse. Kurz gesagt, haben sie eine tiefere Stimme. Auch fanden wir Unterschiede in Teilen des Gehirns, die für die Muskelsteuerung zuständig sind. Und es scheint, dass sie lernfähiger sind.
ZEITmagazin: Dasselbe Gen FOXP2 haben Sie beim Neandertaler gefunden. Müssen wir nun annehmen, er konnte sprechen?
Pääbo: Jedenfalls haben wir einen Grund weniger, zu spekulieren, dass er es nicht konnte. FOXP2 ist vermutlich dafür nötig, dass wir in Millisekunden Stimmlippen, Zunge und Lippen aufeinander abstimmen können, um uns zu artikulieren. Schimpansen sind zu solch präzisen Bewegungen außerstande. Natürlich könnten dem Neandertaler andere Genveränderungen fehlen, die zum Sprechen notwendig sind. Indem wir solche Fragen systematisch angehen, werden wir eines Tages definieren können, was uns biologisch zu modernen Menschen macht. Das ist mein Traum.
ZEITmagazin: Ich frage mich nur, wie viel das Genom über uns sagen kann. Stellen Sie sich vor, Außerirdische hätten sich sämtliche Gensequenzen von modernen Menschen, Neandertalern und Schimpansen verschafft. Was wüssten sie dann über uns?
Pääbo: Sehr wenig – solange den Fremden unklar ist, was diese Gene in unserem Organismus bewirken. Und davon verstehen wir noch fast nichts. Neuerdings gibt es ja Firmen, bei denen jeder für ein paar Hundert Euro sein Genom untersuchen lassen kann. Ich würde so etwas nicht unterstützen, bekam aber einen Gutschein geschenkt. Also schickte ich eine Speichelprobe dorthin. Und was erfuhr ich? Dass ich leicht Schuppenflechte bekommen würde, aber nicht Thrombosen. Leider ist es genau andersherum: Psoriasis hatte ich nie, dafür eine Thrombose. Immerhin konnten sie sagen, dass ich aus Nordeuropa stamme. Vielen Dank, das wusste ich schon.
ZEITmagazin: Sie haben also eine Zusammensetzung von Genen, die für Skandinavier typisch ist. Was sagt das über Sie?
Pääbo: Nur oberflächliche Dinge. Wir kennen heute gut 1.000 Genome von Menschen aus aller Welt. Natürlich hat man nach Merkmalen gesucht, die das Erbgut unterschiedlicher Populationen wie Europäer und Afrikaner auszeichnet. Man fand nur, dass bestimmte Genvarianten für Äußerlichkeiten wie Hautfarbe, Haarstruktur, Verdauung und für einige Eigenschaften der Immunabwehr hier häufiger und da seltener sind. An Organen, die direkt Umwelteinflüssen ausgesetzt sind, greift die natürliche Selektion am stärksten.
ZEITmagazin: Klar, ohne Sonnencreme kann ein Schwede in Afrika nicht lange bestehen. Aber zählt wirklich nur solche Anpassung an die Umgebung? Intelligenz und Fähigkeit zur Kooperation sind nicht minder entscheidend für den evolutionären Erfolg, würde man denken.
Pääbo: Ja, aber die zahlen sich überall aus. Darum sehen wir hier keine genetischen Unterschiede zwischen den Populationen.
ZEITmagazin: Was die Intelligenz angeht, mag das so sein. In Sachen Kooperation habe ich Zweifel. Hier scheint die Umgebung sehr wohl eine Rolle zu spielen, wie neue Untersuchungen zeigen. Beispielsweise ist das Gerechtigkeitsempfinden umso stärker entwickelt, je mehr Menschen aufeinander angewiesen sind, um sich zu ernähren. Warum haben sich diese Unterschiede nicht in den Genen niedergeschlagen?
Pääbo: Weil keine Zeit dazu war. Um solch komplexe Eigenschaften zu ändern, müsste die Natur an sehr vielen Genen schrauben. Dabei hat der Mensch eine viel schnellere Antwort auf das Problem der Anpassung – die Kultur. Noch dazu haben sich unsere Vorfahren, seit sie vor 100.000 Jahren aus Afrika auszogen, immer wieder vermischt.
ZEITmagazin: Man kann diese genetische Ähnlichkeit in eine wahre Geschichte packen, die mich beeindruckt hat: Die Stammbäume sämtlicher heute lebenden Menschen lassen sich auf eine einzige Frau zurückverfolgen, die vor knapp 150.000 Jahren in Afrika gelebt haben muss. So gesehen, sind wir sieben Milliarden Menschen...
Pääbo: ...alle ziemlich eng verwandte Brüder und Schwestern. Dass die genetischen Unterschiede zwischen uns alles andere als tiefgreifend sind, ist die wohl wichtigste Einsicht. Als ich mit der Genetik begann, wollten viele Zeitgenossen nicht wahrhaben, dass unsere biologische Herkunft etwas bedeutet. Heute verfallen wir leicht ins andere Extrem und überbewerten unsere genetische Geschichte. Wir vergessen oft, dass die Kultur uns weit stärker prägt.
ZEITmagazin: Doch Gemeinschaften können nur existieren, wenn sie festlegen, wer dazugehört und wer nicht. Vielleicht gibt es Rassismus, weil die sichtbaren Unterschiede der Menschen in Körperbau oder Hautfarbe solch verführerisch einfache Merkmale sind, um diese Entscheidung zu treffen.
Pääbo: Aber schon die Einteilung in Rassen ist willkürlich. Ich träume davon, einmal mit einem Boot von Alexandria den Nil hinaufzufahren. Alle 50 Kilometer würde ich Menschen, die mir begegnen, Blutproben für Gentests abnehmen und ihre Hauthelligkeit messen. Dabei würde sich zeigen, dass es nicht einmal zwischen den hellen Menschen vom Mittelmeer und den dunklen am Viktoriasee eine klare Abgrenzung gibt: Die Übergänge sind fließend. Wo immer wir Trennlinien ziehen, tun wir es willkürlich.
ZEITmagazin: Noch weniger ist unsere Idee von Völkern genetisch gedeckt.
Pääbo: Unsere Gene spiegeln vor allem die
Siedlungsgeschichte während der Eiszeit und der Epoche, in der sich
Ackerbau verbreitete. Da gab es noch keine Deutschen, Franzosen und
Polen. Von »Völkern« zu reden ist reine Politik.
ZEITmagazin: Mehrere Auszüge aus Afrika,
verschiedene Menschenformen nebeneinander, deutlich sichtbare
und doch unbedeutende Unterschiede zwischen den Rassen: Die
Menschheitsgeschichte, wie sie die Paläogenetik erzählt, ist
kompliziert...Pääbo: ...was vielleicht nur bedeutet, dass wir sie noch nicht richtig verstanden haben.
ZEITmagazin: Verstehen Sie Menschen, die sich nach einfacheren Erklärungen sehnen?
Pääbo: Meinen Sie religiöse Erklärungen?
ZEITmagazin: Ja.
Pääbo: Ich verstehe, dass Menschen, die vor existenziellen Herausforderungen stehen, religiöse Bedürfnisse haben. Die habe ich auch. Manchmal stelle ich mir vor, dass ich mit mir nahestehenden Verstorbenen geistig Kontakt aufnehmen kann. Das hilft mir dann, die Trennung zu verarbeiten. Trotzdem finde ich es naiv, an einen persönlichen Schöpfer zu glauben.
ZEITmagazin: Ist das nicht inkonsequent?
Pääbo: Wer ist schon immer konsequent? Ich hatte einmal einen Doktoranden, der war fundamentalistischer Muslim. Er litt, denn natürlich glaubte er an die Schöpfung. Doch wir konnten uns einigen. Denn können wir kategorisch ausschließen, dass es einen allmächtigen und unergründlichen Gott gibt? Vielleicht ist die molekulare Evolution sein Plan, den wir nur nicht durchschauen.
- Quelle: ZEITmagazin, 24.11.2011 Nr. 48
- Adresse: http://www.zeit.de/2011/48/Wissenschaftsgespraech-Paeaebo/komplettansicht
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