Goldman-Sachs-Banker O'Neill: "Ich bin Außenseiter in meinem Beruf"
Von Erich Follath
O'Neill, 55, betreut als oberster Vermögensverwalter der US-Investmentbank Goldman Sachs bislang 800 Milliarden Dollar Kundengelder. Anfang Februar kündigte er überraschend an, die Bank spätestens zum Jahresende zu verlassen.
Bekannt wurde O'Neill im Jahr 2001 mit einem Aufsatz, in dem er erstmals die vier Schwellenländer
Brasilien, Russland, Indien und China als BRIC-Staaten zusammenfasste,
denen er zugleich eine Zukunft als kommende Wirtschafts-Großmächte
vorraussagte. Mittlerweile wird häufig auch noch Südafrika zu diesem
Kreis gezählt.
Das nunmehr BRICS genannte Quintett vertritt rund 40 Prozent der
Weltbevölkerung und sieht sich längst als Gegengewicht zu etablierten
Mächten wie den USA oder der EU. Ende März werden sich die
BRICS-Staatschefs im südafrikanischen Durban treffen - auf der Suche
nach einer neuen Weltordnung und ihrer Rolle darin.
SPIEGEL ONLINE: Mister O'Neill, 800 Milliarden Dollar zu verwalten, das klingt nach einem herausfordernden Job. Warum macht Ihnen das keinen Spaß mehr?
O'Neill: Darum geht es nicht. Ich erfülle meine Aufgaben sehr gern. Aber ich habe mir vorgenommen, nach über 17 Jahren als Goldman-Partner Bilanz zu ziehen. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen: Es ist an der Zeit, ein neues Leben da draußen zu erkunden.
SPIEGEL ONLINE: Was heißt das? Sie gehen in Pension und reisen durch die Welt? Oder arbeiten Sie künftig bei einem anderen Geldinstitut - etwa der Deutschen Bank?
O'Neill: Netter Versuch, mich zu provozieren. Aber nein, konkreter kann ich mich noch nicht äußern. Ich werde mich nicht ganz aus dem Geschäft zurückziehen.
SPIEGEL ONLINE: Könnte Ihr Rückzug auch etwas mit dem schlechten Image zu tun haben, unter dem Goldman Sachs leidet? Gerade erst hat Greenpeace Ihrer Firma und dem Öl-Multi Shell den Schmähpreis "Public Eye Award" verliehen - als "übelstes Unternehmen des Jahres". Goldman Sachs habe Griechenland geholfen, seine Staatsschulden zu verschleiern, trage eine Hauptverantwortung für die Finanzkrise und arbeite weiter intransparent.
O'Neill: Unsinn, das hat mit meiner persönlichen Entscheidung überhaupt nichts zu tun. Aber es wird Sie vielleicht überraschen, was ich jetzt sage, und es ist innerhalb der Bank sicher umstritten: Ich bin der Meinung, die Kritiker haben in einigen Punkten recht. Wir haben uns in der Vergangenheit teilweise nicht verantwortungsvoll genug verhalten. Manche von uns haben nicht begriffen, dass unsere Geschäfte für die gesamte Menschheit Auswirkungen haben. Sie tun so, als könnte man sich von der realen Welt abkoppeln. Dafür werden wir zu Recht öffentlich kritisiert.
SPIEGEL ONLINE: Sie könnten eine Zweitkarriere als Generalsekretär der BRICS-Staaten starten.
O'Neill: Ich habe in den vergangenen Tagen das eine oder andere Angebot bekommen - dieser Vorschlag war allerdings noch nicht dabei. Und ich weiß auch nicht, ob die BRICS-Chefs so eine Position wollen - und ob sie denn mich für diese Funktion wollten. Andererseits: Der ganze Club verdankt ja mir seine Existenz, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf. Also, ich warte mal auf einen Anruf.
SPIEGEL ONLINE: Schon beim Treffen im vergangenen Jahr in Neu-Delhi wurde unter den BRICS-Staatschefs über sehr konkrete gemeinsame Maßnahmen gesprochen, beispielsweise darüber, eine Entwicklungsbank zu schaffen, als Konkurrenz zur westlich dominierten Weltbank...
O'Neill: ...was ich für eine faszinierende Idee halte. Das wird von Indien und wohl auch von Brasilien favorisiert. Aber ob die Chinesen den Plan wirklich gut finden, muss sich zeigen. Es wäre jetzt wichtig, konkrete Projekte anzuschieben, wenn die BRICS mehr sein wollen als ein Verein mit losen Verbindungen. Sie haben sich ja schon auf Handelserleichterungen untereinander geeinigt und stellen bei manchen außen- und umweltpolitischen Themen gemeinsame Forderungen auf. Da geht noch mehr.
SPIEGEL ONLINE: Aber sind die BRICS-Staaten nicht zu unterschiedlich, um eine wirklich schlagkräftige Gemeinschaft zu bilden?
O'Neill: Sie müssen sich die Situation vergegenwärtigen, in der ich mir das BRIC-Konzept ausgedacht habe. Das war kurz nach 9/11. Die Terroranschläge von New York und Washington hatten mich in meiner Auffassung bestärkt, dass die westliche Dominanz durch irgendetwas anderes abgelöst oder zumindest ergänzt werden müsste. Wenn die Globalisierung weiter Erfolg haben sollte, durfte sie nicht unter amerikanischer Flagge daherkommen. China, Indien, Russland und Brasilien schienen mir allein von der schieren Größe und ihrer Bevölkerungszahl her das ökonomische Potential zu haben. Was die Schwellenländer verband und verbindet, waren neben dem Misstrauen gegenüber dem Westen ihre blendenden Zukunftsaussichten. Ansonsten: Politisch und auch von ihrem Wirtschaftssystem her könnten sie kaum unterschiedlicher sein.
SPIEGEL ONLINE: Haben sich die BRICS ökonomisch so entwickelt, wie Sie es erwartet haben?
O'Neill: Sie haben alle Erwartungen übertroffen. Das
Bruttoinlandsprodukt dieser Gruppe ist in nicht viel mehr als einem
Jahrzehnt von rund 3 Billionen Dollar auf 13 Billionen gewachsen. Die
BRICS-Staaten haben das Potential, die weltweite Rezession abzuwenden
und schneller zu wachsen als der Rest. Uns alle als Lokomotive
mitzuziehen.
SPIEGEL ONLINE: Das behaupten Sie. Aber auch in China, Indien,
Russland und Brasilien kriselt es teils erheblich. Ihr Konkurrent Ruchir
Sharma von Morgan Stanley Investment Management hat schon das Ende des
Wunders ausgerufen. "Broken BRICS", schrieb er, die neuen Ziegelsteine
der Weltwirtschaft seien zerbrochen...
O'Neill: ...und ein Teil der Presse betet das brav nach. Das ist so grundfalsch, dass es mich je nach Stimmungslage manchmal amüsiert, manchmal verärgert.
SPIEGEL ONLINE: Sie werden nicht leugnen wollen, dass die BRICS im vergangenen Jahr schwer enttäuscht haben und dass es auch jetzt für sie alles andere als glänzend läuft.
O'Neill: Das ist Ansichtssache. China hat im vergangenen Jahr 7,7 Prozent Wirtschaftswachstum erreicht. Die Volksrepublik hat damit auch 2012 ihre ökonomische Kraft so entwickelt, dass sie alle elfeinhalb Wochen die gesamte Wirtschaftsleistung Griechenlands erbrachte. Für China eher ein schwacher Wert, zugegeben. Aber wichtig ist, dass Peking aus strukturellen wie aus zyklischen Gründen langsamer wuchs. Es war ein planmäßiger Abschwung, hauptsächlich aus Sorge vor Überhitzung und Inflation. Das letzte Quartal sah schon wieder besser aus, China hat das Tal verlassen.
SPIEGEL ONLINE: Sie sehen keine Warnsignale in den vielen Streiks in China, in der Korruption, in der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich? Wollen Sie uns unbedingt China-Fonds verkaufen?
O'Neill: Mich hat bei meinen Besuchen dort immer wieder verblüfft, wie undogmatisch die Partei in der Wirtschaftspolitik entscheidet. In den vergangenen beiden Jahren wurden die Zügel auf der Finanzseite stark angezogen, weil die Regierung versuchte, sich vor Inflation zu schützen. Da hat sie wohl auch zu viel des Guten getan. Von der neuen politischen Führung erwarte ich mir nicht allzu viel Wagemut, aber die vorsichtige Fortsetzung der begonnenen Reformen - hin zu höheren Lebensstandards und einer Verringerung der riesigen Kluft zwischen Arm und Reich.
SPIEGEL ONLINE: Und genauso optimistisch sind Sie auch für Russland, Brasilien und Indien?
O'Neill: Nicht ganz. Russland muss sich von seiner Abhängigkeit von Öl- und Gasexporten lösen, aber es hat gute Chancen, kontinuierlich etwa vier Prozent im Jahr zuzulegen. Brasilien muss mehr fürs Wachstum tun, hat aber langfristig durch seine Rohstoffe und eigene Industrieleistungen beste Möglichkeiten. Wenn ich mal Südafrika weglasse, das in diesem Club sowieso nichts zu suchen hat, bleibt Indien als größtes Problemland. Die Regierung in Neu-Delhi müsste mehr für ausländische Direktinvestitionen tun und benötigt dringend Impulse - es wird einfach nicht gut genug regiert. Aber das Land bleibt hochinteressant. Durch die sehr junge Bevölkerung hat es außerdem einen demografischen Vorteil.
SPIEGEL ONLINE: Für viele Investoren wirken die BRICS-Märkte ausgereizt. Haben Sie schon Nachfolger ausgeguckt?
O'Neill: Als ich Mexiko, Indonesien, Südkorea und die Türkei als neue Wachstumsstaaten nannte, machte jemand das Kürzel "MIST" daraus. Ich weiß, das klingt auf Deutsch nicht besonders gut...
SPIEGEL ONLINE: ...und deshalb werden die neuen vier von Investoren gerade in "SMIT" umbenannt...
O'Neill: ...wie auch immer: Die sind im Kommen.
SPIEGEL ONLINE: Und was kommt auf Ihre eigene Branche zu, das Bankgewerbe? Wie stehen Sie etwa zur gerade in Deutschland heftig diskutierten Frage, ob man Investment- von Geschäftsbanken trennen sollte, um Privatanlegern eine Haftung für mögliche Verluste durch spekulative Geschäfte zu ersparen?
O'Neill: Ja, ich halte eine solche Trennung prinzipiell für sinnvoll. Investmentbanking ist etwas ganz anderes als Commercial Banking. Und was die Boni betrifft: Ich bin gegen die jährliche variable Erhöhung. Das frühere Partnerschaftsmodell hat gut funktioniert. Da ging das Geld auf ein Kapitalkonto, auf dem sich der Wohlstand sammelte, bis man eines Tages in den Ruhestand ging. Exzesse muss man bekämpfen.
SPIEGEL ONLINE: Jetzt klingen Sie schon fast wie ein Demonstrant aus der Occupy-Bewegung.
O'Neill: In gewisser Weise bin ich tatsächlich Außenseiter in
meinem Beruf, jedenfalls nicht Teil des Establishments. Und ich bin froh
darüber. Viele in dieser Industrie lassen sich morgens vom Chauffeur
abholen, essen tagsüber nur mit ihresgleichen in superteuren
Restaurants, nachts geht es dann nach 14 Stunden im Büro wieder im Wagen
zurück. Die wissen gar nicht, dass es ein Leben jenseits ihres Jobs,
jenseits ihrer Gehaltsklasse gibt. Ich fahre in London U-Bahn und nehme
mir Zeit für Freunde aus anderen Berufsgruppen. Ich lege Wert darauf,
mit Menschen aus allen Bevölkerungsschichten zusammenzukommen. Besonders
gern mit Fußballfans. Mit denen treffe ich mich regelmäßig in Pubs.
SPIEGEL ONLINE: Woher rührt die Offenheit?
O'Neill: Das hat sicher mit meiner Herkunft zu tun. Mein Vater hat mit 14 die Schule verlassen, arbeitete als Postbote. Meine Schwester und ich sind in bescheidenen Verhältnissen in Manchester aufgewachsen. Unsere Eltern haben es sich vom Munde abgespart, dass wir studieren konnten.
SPIEGEL ONLINE: Mister O'Neill, 800 Milliarden Dollar zu verwalten, das klingt nach einem herausfordernden Job. Warum macht Ihnen das keinen Spaß mehr?
O'Neill: Darum geht es nicht. Ich erfülle meine Aufgaben sehr gern. Aber ich habe mir vorgenommen, nach über 17 Jahren als Goldman-Partner Bilanz zu ziehen. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen: Es ist an der Zeit, ein neues Leben da draußen zu erkunden.
SPIEGEL ONLINE: Was heißt das? Sie gehen in Pension und reisen durch die Welt? Oder arbeiten Sie künftig bei einem anderen Geldinstitut - etwa der Deutschen Bank?
O'Neill: Netter Versuch, mich zu provozieren. Aber nein, konkreter kann ich mich noch nicht äußern. Ich werde mich nicht ganz aus dem Geschäft zurückziehen.
SPIEGEL ONLINE: Könnte Ihr Rückzug auch etwas mit dem schlechten Image zu tun haben, unter dem Goldman Sachs leidet? Gerade erst hat Greenpeace Ihrer Firma und dem Öl-Multi Shell den Schmähpreis "Public Eye Award" verliehen - als "übelstes Unternehmen des Jahres". Goldman Sachs habe Griechenland geholfen, seine Staatsschulden zu verschleiern, trage eine Hauptverantwortung für die Finanzkrise und arbeite weiter intransparent.
O'Neill: Unsinn, das hat mit meiner persönlichen Entscheidung überhaupt nichts zu tun. Aber es wird Sie vielleicht überraschen, was ich jetzt sage, und es ist innerhalb der Bank sicher umstritten: Ich bin der Meinung, die Kritiker haben in einigen Punkten recht. Wir haben uns in der Vergangenheit teilweise nicht verantwortungsvoll genug verhalten. Manche von uns haben nicht begriffen, dass unsere Geschäfte für die gesamte Menschheit Auswirkungen haben. Sie tun so, als könnte man sich von der realen Welt abkoppeln. Dafür werden wir zu Recht öffentlich kritisiert.
SPIEGEL ONLINE: Sie könnten eine Zweitkarriere als Generalsekretär der BRICS-Staaten starten.
O'Neill: Ich habe in den vergangenen Tagen das eine oder andere Angebot bekommen - dieser Vorschlag war allerdings noch nicht dabei. Und ich weiß auch nicht, ob die BRICS-Chefs so eine Position wollen - und ob sie denn mich für diese Funktion wollten. Andererseits: Der ganze Club verdankt ja mir seine Existenz, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf. Also, ich warte mal auf einen Anruf.
SPIEGEL ONLINE: Schon beim Treffen im vergangenen Jahr in Neu-Delhi wurde unter den BRICS-Staatschefs über sehr konkrete gemeinsame Maßnahmen gesprochen, beispielsweise darüber, eine Entwicklungsbank zu schaffen, als Konkurrenz zur westlich dominierten Weltbank...
O'Neill: ...was ich für eine faszinierende Idee halte. Das wird von Indien und wohl auch von Brasilien favorisiert. Aber ob die Chinesen den Plan wirklich gut finden, muss sich zeigen. Es wäre jetzt wichtig, konkrete Projekte anzuschieben, wenn die BRICS mehr sein wollen als ein Verein mit losen Verbindungen. Sie haben sich ja schon auf Handelserleichterungen untereinander geeinigt und stellen bei manchen außen- und umweltpolitischen Themen gemeinsame Forderungen auf. Da geht noch mehr.
SPIEGEL ONLINE: Aber sind die BRICS-Staaten nicht zu unterschiedlich, um eine wirklich schlagkräftige Gemeinschaft zu bilden?
O'Neill: Sie müssen sich die Situation vergegenwärtigen, in der ich mir das BRIC-Konzept ausgedacht habe. Das war kurz nach 9/11. Die Terroranschläge von New York und Washington hatten mich in meiner Auffassung bestärkt, dass die westliche Dominanz durch irgendetwas anderes abgelöst oder zumindest ergänzt werden müsste. Wenn die Globalisierung weiter Erfolg haben sollte, durfte sie nicht unter amerikanischer Flagge daherkommen. China, Indien, Russland und Brasilien schienen mir allein von der schieren Größe und ihrer Bevölkerungszahl her das ökonomische Potential zu haben. Was die Schwellenländer verband und verbindet, waren neben dem Misstrauen gegenüber dem Westen ihre blendenden Zukunftsaussichten. Ansonsten: Politisch und auch von ihrem Wirtschaftssystem her könnten sie kaum unterschiedlicher sein.
SPIEGEL ONLINE: Haben sich die BRICS ökonomisch so entwickelt, wie Sie es erwartet haben?
Entwicklung des BIP in Prozent | ||||||||||
Land | 2003 | 2004 | 2005 | 2006 | 2007 | 2008 | 2009 | 2010 | 2011 | 2012 |
Brasilien | 1,15 | 5,71 | 3,16 | 3,96 | 6,10 | 5,17 | -0,33 | 7,53 | 2,73 | 3,03 |
China | 10,03 | 10,09 | 11,31 | 12,68 | 14,16 | 9,64 | 9,21 | 10,45 | 9,24 | 8,23 |
Indien | 6,85 | 7,59 | 9,03 | 9,53 | 9,99 | 6,19 | 6,58 | 10,62 | 7,24 | 6,86 |
Russland | 7,25 | 7,15 | 6,39 | 8,15 | 8,54 | 5,25 | -7,80 | 4,30 | 4,30 | 4,01 |
Quelle: IWF International Monetary Fund, World Economic Outlook Database, April 2012 |
O'Neill: ...und ein Teil der Presse betet das brav nach. Das ist so grundfalsch, dass es mich je nach Stimmungslage manchmal amüsiert, manchmal verärgert.
SPIEGEL ONLINE: Sie werden nicht leugnen wollen, dass die BRICS im vergangenen Jahr schwer enttäuscht haben und dass es auch jetzt für sie alles andere als glänzend läuft.
O'Neill: Das ist Ansichtssache. China hat im vergangenen Jahr 7,7 Prozent Wirtschaftswachstum erreicht. Die Volksrepublik hat damit auch 2012 ihre ökonomische Kraft so entwickelt, dass sie alle elfeinhalb Wochen die gesamte Wirtschaftsleistung Griechenlands erbrachte. Für China eher ein schwacher Wert, zugegeben. Aber wichtig ist, dass Peking aus strukturellen wie aus zyklischen Gründen langsamer wuchs. Es war ein planmäßiger Abschwung, hauptsächlich aus Sorge vor Überhitzung und Inflation. Das letzte Quartal sah schon wieder besser aus, China hat das Tal verlassen.
SPIEGEL ONLINE: Sie sehen keine Warnsignale in den vielen Streiks in China, in der Korruption, in der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich? Wollen Sie uns unbedingt China-Fonds verkaufen?
O'Neill: Mich hat bei meinen Besuchen dort immer wieder verblüfft, wie undogmatisch die Partei in der Wirtschaftspolitik entscheidet. In den vergangenen beiden Jahren wurden die Zügel auf der Finanzseite stark angezogen, weil die Regierung versuchte, sich vor Inflation zu schützen. Da hat sie wohl auch zu viel des Guten getan. Von der neuen politischen Führung erwarte ich mir nicht allzu viel Wagemut, aber die vorsichtige Fortsetzung der begonnenen Reformen - hin zu höheren Lebensstandards und einer Verringerung der riesigen Kluft zwischen Arm und Reich.
SPIEGEL ONLINE: Und genauso optimistisch sind Sie auch für Russland, Brasilien und Indien?
O'Neill: Nicht ganz. Russland muss sich von seiner Abhängigkeit von Öl- und Gasexporten lösen, aber es hat gute Chancen, kontinuierlich etwa vier Prozent im Jahr zuzulegen. Brasilien muss mehr fürs Wachstum tun, hat aber langfristig durch seine Rohstoffe und eigene Industrieleistungen beste Möglichkeiten. Wenn ich mal Südafrika weglasse, das in diesem Club sowieso nichts zu suchen hat, bleibt Indien als größtes Problemland. Die Regierung in Neu-Delhi müsste mehr für ausländische Direktinvestitionen tun und benötigt dringend Impulse - es wird einfach nicht gut genug regiert. Aber das Land bleibt hochinteressant. Durch die sehr junge Bevölkerung hat es außerdem einen demografischen Vorteil.
SPIEGEL ONLINE: Für viele Investoren wirken die BRICS-Märkte ausgereizt. Haben Sie schon Nachfolger ausgeguckt?
O'Neill: Als ich Mexiko, Indonesien, Südkorea und die Türkei als neue Wachstumsstaaten nannte, machte jemand das Kürzel "MIST" daraus. Ich weiß, das klingt auf Deutsch nicht besonders gut...
SPIEGEL ONLINE: ...und deshalb werden die neuen vier von Investoren gerade in "SMIT" umbenannt...
O'Neill: ...wie auch immer: Die sind im Kommen.
SPIEGEL ONLINE: Und was kommt auf Ihre eigene Branche zu, das Bankgewerbe? Wie stehen Sie etwa zur gerade in Deutschland heftig diskutierten Frage, ob man Investment- von Geschäftsbanken trennen sollte, um Privatanlegern eine Haftung für mögliche Verluste durch spekulative Geschäfte zu ersparen?
O'Neill: Ja, ich halte eine solche Trennung prinzipiell für sinnvoll. Investmentbanking ist etwas ganz anderes als Commercial Banking. Und was die Boni betrifft: Ich bin gegen die jährliche variable Erhöhung. Das frühere Partnerschaftsmodell hat gut funktioniert. Da ging das Geld auf ein Kapitalkonto, auf dem sich der Wohlstand sammelte, bis man eines Tages in den Ruhestand ging. Exzesse muss man bekämpfen.
SPIEGEL ONLINE: Jetzt klingen Sie schon fast wie ein Demonstrant aus der Occupy-Bewegung.
ANZEIGE
O'Neill: Das hat sicher mit meiner Herkunft zu tun. Mein Vater hat mit 14 die Schule verlassen, arbeitete als Postbote. Meine Schwester und ich sind in bescheidenen Verhältnissen in Manchester aufgewachsen. Unsere Eltern haben es sich vom Munde abgespart, dass wir studieren konnten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen