Europa in der Krise
Wer hat den Mut?
In Deutschland gaukeln Politiker aller Parteien den Menschen vor, sie könnten alle Vorteile der Europäischen Union nutzen, blieben aber doch Bewohner eines in seinen wesentlichen Belangen souveränen Nationalstaates. Das ist aber nicht wahr.
Ungleich und doch eine Einheit: Die EU hat das Sagen
23. Juli 2011 2011-07-23 21:25:23
Schuldenschnitt, Schuldentausch, Schuldenrückkauf mit Hilfe des – na klar, des guten alten European Financial Stability Facility, kurz: EFSF oder Euro-Krisenfonds. Kennen Sie natürlich alles. Ebenso wie den SD, den „Selective Default“, also den teilweisen Ausfall von Staatsanleihen. Und weil eben alle Europäer mit diesen finanztechnischen Finessen der Union, in der sie leben, bestens vertraut sind, sind sie beruhigt ins Wochenende gegangen. Denn die Staats- und Regierungschefs haben schließlich an einem einzigen Donnerstag – schwupps – durch eine clevere Kombination von EZB, EFSF und SD das ökonomisch marode Griechenland für ein paar Wochen und Monate (das mit den Jahren glaubt denn doch niemand) auf seiner schiefen Bahn festgetackert. Europa ist ein Traum.
Oder? Vielleicht ist es besser, das ganze aus bunten Rettungsbausteinen errichtete europäisch-griechische Luftschloss für einen Moment zu vergessen. Die technischen Einzelheiten verstehen von den in Europa lebenden Menschen in Wahrheit nämlich nur einige wenige Spezialisten. Schon die Politiker machen uns ja hinlänglich oft klar, dass sie nicht oder nur sehr eingeschränkt zu jener Gruppe der Verständigen gehören, die wissen, was sie tun. Das müssen sie in den Details auch gar nicht, dafür haben sie große Ministerien, in denen Leute sitzen, die die finanz- und gesetzestechnischen Abläufe viel besser verstehen. Hoffentlich.
Staaten, die unterschiedlicher kaum sein könnten
Dass die Politiker so viel über die technische Seite der europäischen Krise reden, zeigt, dass sie sich vor ihr drücken wollen. Die Größe dieser Aufgabe macht ein solches Verhalten verständlich. Man kann sie nämlich nicht dadurch lösen, dass man dem Euro-Krisenfonds zusätzliche Möglichkeiten zur Krisenintervention gibt – oder Ähnliches. Erforderlich ist vielmehr ein enormes Eingeständnis, das lautet: Die auf 27 Mitglieder gewucherte Europäische Union funktioniert mit der gegenwärtigen Vertragstechnik nicht.
Dabei ist die Zahl von 27 Mitgliedern nicht einmal entscheidend. Denn dass der Ursprung der heutigen EU funktioniert hat, lag nicht daran, dass es nur sechs Länder waren. Grund dafür war vielmehr, dass diese sechs Länder, Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten, sich einigermaßen ähnlich waren – und sind. Im Laufe der Zeit, von den Politikern gewollt und vom Ende des Kalten Krieges beschleunigt, kamen 21 Staaten zu dieser Sechser-Gemeinschaft hinzu, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Sosehr die fünfzig amerikanischen Bundesstaaten voneinander verschieden sind, so gibt es doch nirgends Ungleichheiten, die auch nur annähernd so groß wären wie die zwischen Deutschland und Rumänien – oder eben Griechenland, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Bis zum heutigen Tag gaukeln in Deutschland Politiker aller Parteien den Menschen vor, sie könnten zwar alle Vorteile dieser riesigen Union nutzen, zum Beispiel die gerade für ein Exportland so nützliche Gemeinschaftswährung oder das Reisen ohne Grenzkontrollen, blieben aber doch Bewohner eines Nationalstaates, der in seinen wesentlichen Belangen wie der Wirtschaftspolitik, der Höhe der Steuern oder der Rentenpolitik souverän bleibe.
Skepsis gibt es genug
Das ist aber nicht wahr. Spätestens der Absturz Griechenlands und der ebenso verzweifelte wie teure Versuch, dem Land wieder Halt zu geben, machen deutlich, wie tief die Europäische Union sich im Zweifelsfalle in das Innenleben eines Mitgliedstaates einmischen muss, wenn dieser ins Wanken gerät. Die Wut vieler Griechen hat ihren Grund denn auch weniger darin, dass sie nicht einsehen, was in ihrem Land falsch gelaufen ist. Viel empörender finden sie es, dass Regierungen anderer Staaten, ausgestattet mit der Autorität der Europäischen Union, bis in den hintersten Winkel des Peloponnes auf einmal das Sagen haben.
Wer bisher der Ansicht war, die Europäische Union habe viel oder sogar zu viel Einfluss auf das Leben in ihren Mitgliedstaaten, der kann durch einfache Zeitungslektüre erfahren, was passiert, wenn ein Land aus dem Ruder läuft. Wenn aber irgendeine Lehre aus der Krise Griechenlands (und anderer EU-Staaten) gezogen werden muss, dann doch die: Künftig kann nicht mehr so lange gewartet werden, bis es zu spät ist.
Damit das möglich ist, wird die Europäische Union noch viel tiefer in das Innenleben ihrer Mitgliedstaaten eingreifen müssen als bisher, sei es in die Finanz-, die Wirtschafts- oder die Sozialpolitik. Der Zulauf, den europakritische Parteien in einigen EU-Länden haben, zeigt, dass viele Menschen davon nicht begeistert sein werden. Noch hat eine solche Partei in Deutschland nicht Fuß gefasst. Skepsis gibt es gleichwohl genug. Ob sie überwunden werden kann, ist ungewiss. Doch wer das will, muss wenigstens die Wahrheit sagen. Ob jemand den Mut dazu hat? Wenn nicht, ist das auch ein Zeichen.
Text: F.A.Z.Bildmaterial: dapd
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen