Donnerstag, 16. September 2010

LeMonde: Der andere Krieg gegen den Irak

Der andere Krieg gegen den Irak

von

Andrew Cockburn

Das Embargo, das dem Irakkrieg von 2003 vorausging, ist heute fast vergessen. Dabei hat dieser "unerklärte Krieg", der die Infrastruktur ruinierte, mit dafür gesorgt, dass die US-Truppen heute ein unregierbares Land zurücklassen.

Kaum jemand weiß heute noch, dass nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Blockade Deutschlands noch über Monate voll aufrechterhalten wurde. Dabei befand sich das Land im November 1918 bereits am Rande einer Hungerkatastrophe. Im Frühjahr 1919 meldeten die deutschen Behörden, dass die Kindersterblichkeit um 50 Prozent zugenommen hatte.

Über die Auswirkungen dieser Politik hatte sich der Ökonom John Maynard Keynes bereits im Februar 1920 sehr skeptisch geäußert. Die Fortdauer der Strafmaßnahmen gegen die deutsche Zivilbevölkerung drückte seiner Meinung nach die "Logik eines bürokratischen Apparats" aus, der das Embargo als ein "perfektes Instrument" zu schätzen gelernt hatte: "Es hatte vier Jahre gebraucht, um es aufzubauen, und es stellte Londons größte Leistung dar; in ihm zeigten sich die typisch englischen Qualitäten aufs Subtilste. Seine Schöpfer liebten es schließlich um seiner selbst willen. Es gab außerdem einige neueste Verbesserungen, die ganz verschwendet gewesen wären, wenn man das Embargo nun aufhöbe; es war hochkompliziert, und eine weitverzweigte Organisation hatte ein starkes Interesse an seiner Fortdauer. Die Experten berichteten infolgedessen, dass es das einzige Instrument darstellte, Deutschland unsere Friedensbedingungen aufzuzwingen, und dass es, einmal aufgehoben, kaum wieder verhängt werden könnte."(1)

Noch bevor Deutschland die Strafbestimmungen des Versailler Vertrags akzeptierte, wurde das Verbot von Lebensmittelimporten allerdings aufgehoben - aus Angst, dem Bolschewismus in die Hände zu spielen. Doch Embargos und Blockaden blieben auch in der Folge ein beliebtes Instrument, das die stärkeren Mächte gegenüber schwachen einsetzten.

Meistens wurde das erklärte Ziel allerdings verfehlt. Eine bemerkenswerte Ausnahme waren die Sanktionen, die westliche Regierungen - unter dem Druck der Öffentlichkeit - gegen das Apartheidregime in Südafrika verhängten. Weit häufiger waren sie jedoch lediglich ein Instrument der Rache; das gilt etwa für das US-Embargo gegen Vietnam und Kambodscha nach dem verlorenen Krieg in Indochina oder für die jüngste israelische Blockade des Gazastreifens, deren erklärtes Ziel es war, "die Bevölkerung auf Diät zu setzen".(2)

Embargo als perfektes Instrument der Rache

Ein anderer Fall ist der Irak. Allerdings überlagerten die Katastrophen, die das Land seit der anglo-amerikanischen Invasion im März 2003 durchlitten hat, die Erinnerungen an jenen "unsichtbaren Krieg", der gegen die irakische Zivilbevölkerung von August 1990 bis Mai 2003 mit tödlicher Effektivität geführt wurde - unter voller Verantwortung der Vereinten Nationen, aber auf rastloses Betreiben der Regierungen in Washington und London.

Dieser jüngste Fall eines präzise und kaltblütig kalkulierten Embargos zeigt rückblickend wesentliche Parallelen zum britischen Verhalten gegenüber dem besiegten Deutschland. In beiden Fällen hielt man an Sanktionen fest, nachdem das ursprüngliche Ziel - die militärische Niederlage des blockierten Staates - bereits erreicht war. In beiden Fällen trafen die Sanktionen die Zivilbevölkerung, während das Regime weitgehend ungeschoren davonkam. Und wie nach dem Ersten Weltkrieg argumentierten die politischen Entscheidungsträger nach dem Golfkrieg von 1990, die Aufhebung der Blockade würde den auf dem Schlachtfeld errungenen Sieg ins Gegenteil verkehren, denn die besiegte Macht werde wieder in ihre alte kriegerische Mentalität zurückfallen.

In der öffentlichen Diskussion wurden die Sanktionen gegen den Irak seinerzeit nur sporadisch thematisiert. Noch weniger Beachtung fand das von Washington betriebene bürokratische Regime, das - mit stets beflissener Unterstützung der Regierung in London - unter anderem für den Tod einer halben Million irakischer Kinder verantwortlich war.

Solche und andere schreckliche Details dokumentiert Joy Gordon in ihrem vorzüglichen Buch über den "unsichtbaren Krieg", das sämtliche Rechtfertigungen und Alibis, die seitdem von den Embargobefürwortern vorgebracht wurden, einer radikalen Prüfung unterzieht.(3) Ein Argument lautete damals, die Leiden gingen einzig auf das Konto des unnachgiebigen Saddam Hussein; ein zweites, trotz der Sanktionen seien Nahrungs- und Arzneimittel weiter geliefert worden, das Regime habe sie der Bevölkerung aber aus propagandistischen Gründen vorenthalten; und eine dritte Entlastungsthese besagte, das UN-Programm "Oil for Food" habe lediglich die Korruption begünstigt und es Saddam ermöglicht, die Sanktionen zu unterlaufen.

Als völkerrechtliche Grundlage des Embargos gegen den Irak diente die Resolution 661, die der UN-Sicherheitsrat am 6. August 1990, vier Tage nach der irakischen Invasion in Kuwait, verabschiedet hatte. Sie untersagte allen UN-Mitgliedstaaten den Handel mit dem Irak und damit auch - was entscheidend war - den Kauf von irakischem Erdöl. Um nichts dem Zufall zu überlassen, hatte die US-Regierung vor der Abstimmung über die Resolution 661 wirtschaftliche Hilfsprogramme für Armutsländer wie Äthiopien und Zaire bewilligt, die als nichtständige Sicherheitsratsmitglieder an der Entscheidung beteiligt waren.

Umgekehrt erging es dem Jemen: Nachdem sich der jemenitische UN-Botschafter bei der Abstimmung enthalten hatte, wurde ihm von der US-Vertretung knapp beschieden: "Dies ist die teuerste Stimmenthaltung, für die sie sich jemals entscheiden haben." Drei Tage später annullierten die USA ihr gesamtes Hilfsprogramm für Sanaa.

Ironischerweise wurden die Sanktionen gegen den Irak von den progressiven Kreisen zunächst begrüßt, weil diese scheinbar eine Alternative zu einem Krieg darstellten. Die Sanktionen bräuchten aber "Zeit, um Wirkung zu zeigen", so die Friedensschützer. Schließlich sei auch das Apartheidregime durch einen ökonomischen Boykott in die Knie gezwungen worden, ohne dass die Bevölkerung merklich darunter gelitten hätte. Warum sollte das nicht auch gegen Saddam Hussein gelingen?

Salz und Milchpulver sind verboten

Der Irakkrieg, der dann am 17. Februar 1991 begann, wurde nicht nur gegen Saddam Husseins Armee in Kuwait geführt, sondern auch gegen die irakische Wirtschaft. Wie mir der Chefplaner der U.S. Air Force, Colonel John Warden, später erklärte, sollten die Luftangriffe in erster Linie die "wichtigsten Knotenpunkte" des Irak zerstören, von denen das Funktionieren einer modernen Industriegesellschaft abhing. Von einem solchen umfassenden Luftkrieg hatte das Pentagon seit dem Zweiten Weltkrieg geträumt. Diese Strategie konnte jetzt im Irak dank der neuen, präzisionsgesteuerten "smart bombs" umgesetzt werden: Kraftwerke, Telekommunikationszentren, Ölraffinerien, Kläranlagen und andere zentrale Infrastrukturen wurden zerstört oder schwer beschädigt. Warden gab mir damals übrigens zu verstehen, wie ungehalten er darüber war, dass sich die Luftangriffe nicht auf die ursprünglich geplanten Ziele beschränkten und die "chirurgische" Wirkung seiner Bomben auf die Pfeiler der modernen irakischen Gesellschaft nicht mehr erkennbar war.

Erstaunlicherweise war ein Großteil der Kriegsschäden innerhalb eines Jahres nach Kriegsende bereits wieder repariert. Das am Rand von Bagdad gelegene Kraftwerk al-Dora, das ich im Juli 1991 als zerbombte Ruine vorgefunden hatte, war sieben Monate später schon wieder in Betrieb. Sein Kontrollzentrum, das die Alliierten völlig zerstört hatten, sah genau so aus wie zuvor, mit denselben pastellfarbenen Wänden, die sich seine italienischen Designer ausgedacht hatten. Hätte sich dieses Wiederaufbauprogramm auf die vielen Milliarden Dollar stützen können, die der Irak vor dem Krieg mit seinen Ölexporten verdient hatte, wäre das Land in der Lage gewesen, sein früheres ökonomischen Niveau rasch wieder zu erreichen. Aber der durch das irakische Regime als "Gegenangriff" deklarierte Wiederaufbau musste mit provisorischen Reparaturen bestritten werden, und der dramatische Mangel an Ersatzteilen sorgte dafür, dass die Infrastruktur mit Fortdauer der Blockade unaufhaltsam verkümmerte.

Am 16. April 1991, also vier Tage nach Inkrafttreten des Waffenstillstands, kündigte der US-Präsident auf einer Pressekonferenz erstmals an, dass man die Blockade fortsetzen wolle, obwohl die irakischen Truppen aus Kuwait vertrieben waren. Jetzt meinte George H. W. Bush, dass es keine normalen Beziehungen zum Irak geben werde, bevor Saddam Hussein beseitigt sei. Deshalb werde man die ökonomischen Sanktionen fortsetzen. Offiziell hatte sich Washington allerdings verpflichtet, die Sanktionen aufzuheben, sobald der Irak die Kuwaiter für die sechs Monate andauernde Besatzung entschädigt und die Bestätigung erbracht hätte, dass er nicht mehr über Massenvernichtungswaffen oder die Fähigkeit zu deren Herstellung verfügte. Zu diesem Zweck bildete die UNO eine spezielle Inspektionsbehörde unter Leitung des in Abrüstungsverhandlungen erfahrenen schwedischen Diplomaten Rolf Ekéus.

Im Mai 1991 schließlich erklärte Robert Gates, der stellvertretende Sicherheitsberater des Präsidenten (und heutige US-Verteidigungsminister): "Saddam ist endgültig diskreditiert. Die Weltgemeinschaft wird ihn nie wieder als Führer des Irak akzeptieren. Solange er an der Macht ist, werden die Iraker deshalb einen Preis dafür bezahlen. Alle Sanktionen werden in Kraft bleiben, bis er von der Bühne verschwunden ist." Mit dieser Äußerung gab Gates allerdings zu, dass die offizielle Rechtfertigung für die Sanktionen irrelevant war.

Aber auch danach blieb Saddams angebliche Weigerung, sein tödliches Waffenarsenal aufzugeben, das entscheidende Argument der Sanktionsbefürworter, wenn Kritiker der Blockade auf die Leiden der irakischen Bevölkerung hinwiesen. Die Haltung Washingtons war auch deshalb unehrlich, weil Bush und Gates zwar behaupteten, die Sanktionen zielten auf die Beseitigung von Saddam, zugleich aber im CIA-Hauptquartier von Langley eine ganz andere Meinung vorherrschte. Ein hoher CIA-Vertreter erklärte mir damals, man halte den Sturz des Diktators durch eine rebellierende Bevölkerung als Resultat der Sanktionen für "die unwahrscheinlichste Variante". Die Verelendung der irakischen Gesellschaft war also nicht etwa Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck.

Als ich im ersten Sommer der Nachkriegssanktionen im Irak herumreiste, war die Bevölkerung wie unter Schock - angesichts einer Katastrophe, die sie auf den Lebensstandard der Dritten Welt zurückwarf. In Bagdad waren die Auktionshäuser voll mit Möbeln und Erbstücken der Mittelschichtfamilien, die verzweifelt versuchten, sich gegen die Folgen der Inflation zu schützen. Im Stadtteil Mansur, einem Quartier der oberen Mittelschicht, beobachtete ich, wie sich wild entschlossene Hausfrauen auf Lebensmittelpakete stürzten, die von der US-Hilfsorganisation Catholic Relief Services verteilt wurden. Viele der meist in Großbritannien ausgebildeten Ärzte standen vor leeren Arzneimittelschränken. Überall wollte man von mir wissen, wann wohl die Sanktionen aufgehoben würden. Die meisten Iraker gingen davon aus, dass man allenfalls ein paar Monate überstehen müsse (am Anfang glaube das auch Saddam). Dass das Embargo nach zehn Jahren immer noch in Kraft sein würde, konnte sich damals niemand vorstellen.

Theoretisch gab es zumindest für die Ärzte keinen Anlass zur Sorge: Die Resolution 661 untersagte zwar die Lieferung sämtlicher Waren an den Irak, nahm aber explizit Güter "mit einer rein medizinischen Bestimmung" und "Lebensmittel zu humanitären Zwecken" aus. Allerdings bedurfte jedes einzelne Produkt, das der Irak importieren wollte - einschließlich Lebens- und Arzneimittel - der Zustimmung des eigens geschaffenen "661-Komitees", dem diplomatische Vertreter der 15 Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats angehörten. Dieses Komitee tagte unter strikter Geheimhaltung; die Protokolle seiner Sitzungen wurden nur in Ausnahmefällen veröffentlicht.

Die erklärte Aufgabe des 661-Komitees war es, Anträge auf Ausnahme von den Sanktionen zu begutachten und zu genehmigen. In der Realität sollte es jedoch den Import selbst noch der harmlosesten Güter verhindern. Als Begründung reichte der Verdacht, die Importe könnten für die Produktion von Massenvernichtungswaffen verwendet werden. Eine raffinierte Klausel ermöglichte es jedem einzelnen Mitglied des Komitees, jeden eingereichten Ausnahmeantrag auf Eis zu legen. Selbst wenn die Mehrheit des Komitees gewillt war, eine bestimmte Lieferung durchzuwinken, konnte diese von den USA und ihren stets gefügigen britischen Partnern blockiert werden.

So verhinderten die USA selbst die Einfuhr von Salz, Wasserrohren, Kinderfahrrädern, Materialien zur Herstellung von Windeln, Stoffen für Kleider und Geräten zur Produktion von Milchpulver. Später wurden auch noch Lichtschalter, Steckdosen, Fensterrahmen, Keramikkacheln und Anstreichfarben auf die Verbotsliste gesetzt. 1991 argumentierte der Vertreter Washingtons sogar gegen den Import von Milchpulver - mit der Behauptung, dass es keine "humanitären Bedürfnisse" erfülle. Ein anderes Mal forderten die US-Diplomaten, das Komitee solle einen Importantrag für Kinderimpfstoffe ablehnen, weil diese von den Waffenexperten in Washington als "verdächtig" eingestuft wurden.

Während der gesamten Geltungsdauer der Sanktionen verhinderten die USA auch den Import von Pumpen, die zur Aufbereitung des Wassers aus dem Tigris benötigt wurden. Der Fluss war durch die Zerstörung der Kläranlagen zu einer offenen Kloake geworden. Auch Chlor, ohne das verseuchtes Wasser nicht gereinigt werden kann, fiel unter das Embargo, weil es angeblich auch als chemische Waffe eingesetzt werden kann. Die Folgen waren unter anderem an den Statistiken der irakischen Kinderkrankenhäuser abzulesen. Jahr um Jahr stieg die Anzahl der Säuglinge, die innerhalb des ersten Lebensjahres starben. Von 1990 bis 1997 stieg ihr Anteil von 3,3 auf 12,5 Prozent des Geburtsjahrgangs. Den Grund sahen Gesundheitsexperten in dem verschmutzten Wasser, das Cholera und andere Margen-Darm-Infektionen verursacht, für die Kinder besonders anfällig sind.

Nur ganz selten ein Stück Wahrheit

Wenn dieses umfassende Embargo tatsächlich zum Ziel gehabt hätte, den Diktator zu Fall zu bringen, hätten sich seine Befürworter nach einiger Zeit eingestehen müssen, dass es genau das Gegenteil bewirkte. Denn Saddam, dessen Invasion in Kuwait die Katastrophe ausgelöst hatte, konnte nun auswärtige Mächte für das Leiden seiner Landsleute verantwortlich machen. In dem Maße, in dem die meisten Iraker ihre Ersparnisse und Einkommen durch Inflation und Arbeitslosigkeit dahinschwinden sahen, waren sie auf die - wenn auch mageren - Rationen angewiesen, die der effiziente Regierungsapparat an die Bevölkerung verteilte. Und weil die Arzneimittel knapp und die Zustände in den Krankenhäusern immer katastrophaler wurden, begannen die Iraker zu glauben, dass alle Krankheiten geheilt würden, fielen nur die Sanktionen.

Über lange Zeit gab es an der Blockade des Irak fast keine öffentliche Kritik. Ab und zu erschienen zwar Reportagen aus dem Land, in denen die wie in Zeitlupe ablaufende Katastrophe beschrieben wurde, aber das Gewissen der Welt, und speziell das der US-amerikanischen Öffentlichkeit, blieb weitgehend ungerührt. Die Regierung in Washington redete sich ein, die Berichte über das Leiden der Bevölkerung würden vom Saddam-Regime bewusst übertrieben, das im Übrigen ganz allein für das Elend der Iraker verantwortlich sei. Damals sagte mir ein US-Beamter, der eine wichtige Rolle bei den Waffeninspektionen der UN-Sonderkommission (UNSCOM) spielte, in vollem Ernst: "Diese Leute, die ständig über sterbende Babys schreiben, werden von der Regierung ganz gezielt in bestimmte Krankenhäuser gelotst." Er ließ sich auch nicht durch die Zahlen der Kindersterblichkeit überzeugen, die von mehreren glaubwürdigen Institutionen - wie der Weltgesundheitsorganisation WHO - zusammengetragen wurden.

Nur in ganz seltenen Fällen wurde die Wahrheit ein Stück weit sichtbar. 1996 interviewte Lesley Stahl in der CBS-Nachrichtensendung "60 Minutes" Madeleine Albright, die damalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen. Die erklärte wie üblich, dass sich die Sanktionen bewährt hätten, weil Saddam ja immerhin einige Eingeständnisse hinsichtlich seines Waffenprogramms gemacht und die Unabhängigkeit Kuwaits anerkannt habe (Letzteres allerdings schon 1991, also unmittelbar nach Kriegsende). Auf die Frage, ob das den Tod von einer halben Million Kinder wert sei, lautete Albrights Antwort: "Wir glauben, das ist es wert."

1995 akzeptierte Saddam Hussein ein UN-Angebot, das es dem Irak ermöglichte, sein Öl zu verkaufen und mit den Erlösen - unter Aufsicht der UN - Lebensmittel und andere lebenswichtige Produkte einzukaufen. Dabei wurde allerdings ein Großteil der irakischen Einnahmen sofort abgezweigt, um erstens die Kuwaiter für die Invasion von 1990 zu entschädigen - wobei Kritiker die kuwaitischen Ansprüche als "unglaubwürdig hoch" bezeichneten - und zweitens die Ausgaben für die UNSCOM-Inspektionen und andere administrative Kosten der UN zu finanzieren. Diese neue Regelung brachte zwar kleine Verbesserungen im Alltagsleben der Iraker, aber keine grundsätzliche Änderung: Im November 1997 ging aus einem Bericht des UN-Generalsekretärs hervor, dass immer noch 31 Prozent der Kinder unterernährt waren; die Versorgung mit sauberem Wasser und Arzneimitteln bezeichnete das Dokument als "überaus unzureichend"; für die Infrastruktur im Gesundheitswesen konstatierte der Bericht eine "außergewöhnlich ernsthafte Verschlechterung".

Das Oil-for-Food-Programm geriet damals aber aus einem ganz anderen Grund in Verruf: Es ermöglichte dem irakischen Regime, verdeckte Provisionen von Ölhändlern zu kassieren, die bei den Lieferungen bevorzugt wurden. Auf ähnliche Weise wurden auch andere Unternehmen geschröpft, zum Beispiel Getreidegroßhändler, die den Irak mit Weizen belieferten. 2004, als sich der irakische Staat aufzulösen schien, wurde der "Oil-for-Food-Skandal" von den US-Medien zur "größten Abzocke der Geschichte" aufgeblasen. Und auch der Kongress, der zu den Sanktionen jahrelang praktisch geschwiegen hatte, überschlug sich auf einmal in Anschuldigungen gegen die Betrügereien und Tricks des inzwischen gestürzten Diktators, der angeblich - in Komplizenschaft mit der UNO - den Tod so vieler Menschen verursacht habe.

Joy Gordon rückt auch in diesem Punkt die Dimensionen zurecht: "Unter dem Oil-for-Food-Programm schöpfte die irakische Regierung von den Geldern für Importverträge etwa 10 Prozent ab; für kurze Zeit kassierte sie auch illegale Summen aus den Ölverkäufen. Zusammen ergab das eine Summe von etwa zwei Milliarden Dollar." Im Vergleich dazu versickerte bei den von Washington eingesetzten Behörden im Irak allein in den ersten 14 Monaten der Besatzung die horrende Summe von 18 Milliarden Dollar. Diese aus Ölverkäufen stammenden Gelder sind nahezu spurlos verschwunden - ohne vorschriftsmäßige Belege und ohne erkennbaren Gewinn für das irakische Volk.(4 )

Bis heute kein Strom

Die wirtschaftliche Strangulierung des Irak wurde damit gerechtfertigt, dass Saddam angeblich über atomare, chemische und biologische Waffen verfügte. Seit 1991 durchkämmten die UN-Inspektoren das Land nach Beweisen für die Existenz dieser Massenvernichtungswaffen. Nachdem sie im ersten Jahr die Infrastruktur des irakischen Atomwaffenprogramm - ebenso wie Raketen und ein großes Chemiewaffenarsenal - entdeckt und zerstört hatten, fanden die Inspektoren allerdings nie mehr etwas. Dennoch blieben sie aus guten Gründen misstrauisch: Während die Existenz von Saddams chemischen Waffen bekannt war - von ihnen hatte er im Krieg gegen den Iran reichlich Gebrauch gemacht, mit Zustimmung der USA -, leugnete er sein Nuklearprojekt systematisch.

Die Zweifel sollten aber spätestens im August 1995 von dem nach Jordanien geflohenen Hussein Kamal zerstreut werden. Dieser Schwiegersohn Saddams hatte die Aufsicht über das Rüstungsprogramm des Diktators gehabt und wurde von Spezialisten der CIA, des britischen MI6 und der UNSCOM intensiv verhört. Dabei machte er jenseits aller Zweifel klar, dass der Irak sämtliche Massenvernichtungswaffen 1991 zerstört hatte. Die westlichen Geheimdienste - ebenso wie die UN-Inspektoren - gaben sich damals die größte Mühe, diese Aussage vor der Welt geheim zu halten.

Bereits Anfang 1997 wollte UNSCOM-Chef Rolf Ekéus - wie er mir Jahre später erzählte - in seinen Bericht an den Sicherheitsrat hineinschreiben, dass der Irak keine Massenvernichtungswaffen besitze, die Forderungen der UN-Resolutionen also bis auf wenige Punkte erfüllt habe. Aus diesem Grund fühlte sich Ekéus verpflichtet, die Aufhebung der Sanktionen zu empfehlen. Als die Clinton-Regierung davon Wind bekam, wurde sie nervös. Wären die Sanktionen aufgehoben worden, hätten die Republikaner Clinton vorgeworfen, dass er Saddam ungeschoren davonkommen lässt. Nach Darstellung von Ekéus bestand für die Clinton-Regierung die Lösung des Problems darin, dass die frischberufene Außenministerin Madeleine Albright am 13. März 1997 öffentlich erklärte: "Wir sind anderer Meinung als die Staaten, die für eine Aufhebung der Sanktionen eintreten, sollte der Irak seine Verpflichtungen in Sachen Massenvernichtungswaffen erfüllen." Natürlich erschien es Saddam nach dieser Äußerung sinnlos, mit den UN-Inspektoren zu kooperieren. Die Folge war eine immer härtere Konfrontation zwischen dem UNSCOM-Team und den irakischen Sicherheitskräften. Die Inspektoren wurden ausgewiesen, und die UN beschuldigten den Irak, "die Abrüstung zu verweigern". Am Ende stand der Krieg.

Denis Halliday, der damalige UN-Koordinator der humanitären Hilfe für den Irak, gab 1998 seinen Posten aus Protest gegen das "genozidale Sanktionsregime" auf, deren heimtückische Folgen er in seinem Rücktrittsgesuch klar benannte: Eine ganze Generation junger Leute war in völliger Isolation aufgewachsen, ganz ähnlich wie die Waisenkinder, die der russische Einmarsch in Afghanistan hinterlassen hatte. Da sich aus diesen später die Taliban gebildet hatten, warnte Halliday: "Wir sollten mit der Möglichkeit rechnen, dass dies das fundamentalistische islamische Denken stärkt. Diese mögliche Wirkung des Sanktionsregimes wird immer noch nicht richtig verstanden. Wir drängen die Leute damit in extremistische Positionen."

Solche verarmten, extremistischen und zornigen Menschen prägten die irakische Gesellschaft, mit der die Soldaten der USA und Großbritanniens seit der Invasion vom März 2003 konfrontiert waren. Auch am Tag vor dem Abzug der letzten US-Kampftruppen aus dem Irak starben dort über 60 Menschen als Opfer von versteckten Bomben und Selbstmordattentaten. Die politischen Führungen der westlichen Staaten sollten noch einmal gründlich nachdenken, bevor sie erneut - und gegenüber anderen Ländern des Mittleren Ostens - auf das "perfekte Instrument" der Blockade setzen.

Fußnoten:
(1) John Meynard Keynes, "Freund und Feind - Zwei Erinnerungen", Berlin (Berenberg) 2004, S. 44.
(2) Siehe Thomas Keenan und Eyal Weizman, "Die dritte Bedrohung Israels. Die Angst der Regierung Netanjahus vor zivilen Protesten", "Le Monde diplomatique, Juli 2010.
(3) Siehe Joy Gordon, "Invisible War: The United States and the Iraq Sanctions", Cambridge (Harvard University Press) 2010.
(4) Siehe Joy Gordon, "Der große Pfusch. Von der gigantischen Verschwendung beim Wiederaufbau im Irak haben vor allem US-Firmen profitiert", "Le Monde diplomatique, Mai 2007.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Andrew Cockburn ist Journalist, zuletzt erschien von ihm: "Rumsfeld: his rise, fall, and catastrophic legacy", (Scribner) 2007.

© "London Review of Books, für die deutsche Übersetzung "Le Monde diplomatique, Berlin.

Le Monde diplomatique Nr. 9288 vom 10.9.2010, 670 Zeilen, Andrew Cockburn

Haaretz: Inside Intel / Meanwhile, back in Nigeria...

  • Published 00:52 16.09.10
  • Latest update 00:52 16.09.10

Inside Intel / Meanwhile, back in Nigeria...

The country's president has fired four top army officers over alleged problems with weapons purchases. Once again, an Israeli arms dealer is reportedly involved

By Yossi Melman

Several weeks ago, Nigerian President Goodluck Jonathan sacked the army's chief of staff, Gen. Abdulrahman Danbazau, and the commanders of the air force, navy and ground forces. They were dismissed after the local media - with documents to back the claim - reported suspicions that they had committed illegalities in arranging arms deals. The primary suspicion is that the three commanders showed favoritism toward certain companies and individuals when allocating contracts worth more than $1 billion to supply weapons and materiel to the Nigerian army.

Nigeria's Goodluck Jonathan Reuters July, 2010

Nigerian President Goodluck Jonathan, right, with military aides in a parade in the capital Abuja in July, 2010.

Photo by: Reuters

But on the margins of this ugly affair, Israel's name also appears. Once again, Israel and an Israeli arms dealer are involved in a scandal in Africa - one currently being investigated by the national security adviser, Gen. Aliyu Mohammed Gusau, among others.

The reports allege, inter alia, that some of the deals were fictitious. For instance, contracts were signed for unnecessary equipment like a simulator parts - at a time when the ground forces did not even possess such a device. In another case, a fictitious deal was allegedly signed for a shipment of parachutes.

Another charge is that faulty equipment, such as helicopters that were grounded because they weren't fit to fly, was purchased at an exorbitant price, while obsolete equipment was sometimes presented as new.

The main figures whose names have been cited in the press are the former president and retired general Ibrahim Babangida, who plans to run again for president in the elections to be held in January 2011, and the cabinet secretary, Yayale Ahmed, who is a former defense minister and is interested in running for governor of one of Nigeria's 36 states. The current president, Goodluck Jonathan, plans to run in next year's elections as well, so all of the claims and counterclaims should also be seen in the context of the upcoming race.

The media reports described Babangida and Yayale as the two largest suppliers of arms and military equipment to Nigeria's defense establishment in general and its armed forces in particular. Babangida, they added, is the secret owner of Suncraft, whose front man is the arms dealer Sami Haider, who is of Lebanese origin.

Another company mentioned in the story is Doiyatec Communications, owned by the Israeli arms dealer Amit Sade, who has been operating in Nigeria for years and is considered close to the leadership there. He is particularly known for his close ties with Yayale.

One investigative report stated that Sade serves as Yayale's "point man." Another report claimed that Doiyatec Communications is a conglomerate comprised of seven companies, and that Yayale is a partner in all or some of them.

Sade holds Israeli and German citizenship. He is approaching 40 and is considered a man of mystery. He is very protective of his privacy, dislikes public exposure and maintains few ties with other Israelis.

After his military service, he worked as a shooting instructor for an Israeli security consulting firm that trained security guards for oil facilities in Angola. From there, he went to Nigeria. Until a decade ago, he was seen as a small-scale security consultant.

He was also involved in the construction of a mall in Lagos together with Alon Nelkin, an Israeli who lived in Nigeria for years, as well as a few other not particularly large deals. The big turning point in his life came around six years ago, when, together with Nelkin, he brokered a huge deal worth $250 million: a sale of drones and unmanned boats made by Aeronautics Defense Systems of Yavneh (Sade and Nelkin have since parted ways due to a dispute ). The deal was reported in Haaretz, and that led to complications.

First, an investigation was opened in Nigeria into suspicions that then-president Olusegun Obasanjo, who hastily approved the deal ahead of an election, had received kickbacks. Next, Nigerian Col. Paul Edor Obi sued Sade, Doiyatec Communications and Avi Leumi, Aeronautics' CEO and also one of its shareholders, in a Nigerian court to demand commissions of $3 million for his involvement in the deal.

The controversial deal also sparked a crisis between Leumi and his partner, the Indian arms dealer Chaudry (known as the rabbit ), which degenerated into reciprocal lawsuits. But their conflict was ultimately settled through mediation. Chaudry, who promotes arms sales in India for most of Israel's defense industries, sold his share of Aeronautics to the Shaked brothers, the owners of a gambling site in Gibraltar.

Since then, Sade has increased his business in Nigeria and been involved in several large arms deals. One was the sale of two Shaldag boats made by Israel Shipyards to the Nigerian navy for $25 million - more than double the cost of these ships, which is an estimated $10 million combined. The Nigerians later claimed they were promised new boats, but instead received used ones from the Israeli navy surplus that had been upgraded.

Israel Shipyards CEO Avi Sharf, when asked about it by Haaretz around a year ago, declined to comment.

Avi Leumi said that since 2006, Aeronautics has not been operating in Nigeria. "I don't want any business in that country, and especially now that I am required to adhere to all the OECD's strict rules," he said.

These rules, which Israel has enacted into law, forbid companies to pay bribes to promote business. But in Nigeria, which is considered one of the world's most corrupt countries, there is scarcely a deal, whether civilian or military, that does not entail bribes being paid to senior government figures, bureaucrats or army officers.

Amit Sade, reached in Nigeria, denied all the Nigerian media's accusations against him and said they stem from the upcoming election campaign. He added that he owns Doiyatec Communications and Yayale is not a partner in the company.

Dienstag, 7. September 2010

JüdAllg: Kinder Abrahams Neueste Forschungen bestätigen die gemeinsame nahöstliche Herkunft aller Juden

Genetik

Kinder Abrahams

Neueste Forschungen bestätigen die gemeinsame nahöstliche Herkunft aller Juden

17.06.2010 – von Sascha KarbergSascha Karberg


Bei allen Unterschieden doch eine große Familie – auch ohne blaues Blut.

© proeye

Ist das jüdische Volk nur eine Erfindung? Hat es nach dem Untergang des Königreichs Juda vor rund 2.500 Jahren gar keine Diaspora jüdischer Stämme, sondern nur eine Welle jüdischer Missionarstätigkeit gegeben? Um diese provokanten Behauptungen des Historikers Shlomo Sand von der Universität Tel Aviv tobte in den letzten Monaten eine heftige Debatte. Laut Sand hätte es politische Folgen für die Legitimation des Staates Israel, wenn sich herausstellte, dass das über die Welt verstreute jüdische Volk gar keine gemeinsamen genetischen Wurzeln im Nahen Osten hätte, sondern nur die gleiche Religion teilte.

Aber wie sollte sich eine solche Frage durch das Studium schriftlicher Überlieferungen und interpretationsbedürftiger archäologischer Ausgrabungen beantworten lassen? Jetzt springt den Historikern die Genforschung bei. Zwei Forschergruppen haben unabhängig voneinander Proben aus dem Erbgut hunderter Juden aus verschiedenen Regionen Europas, Asiens und Afrikas auf Verwandtschaftshinweise untersucht und mit Proben der benachbarten nichtjüdischen Volksgruppen der jeweiligen Regionen verglichen – und können die mythische Diaspora nun naturwissenschaftlich bestätigen.

Verwandt In New York, Seattle, Athen, Rom und Israel sammelte das Forscherteam um Harry Ostrer von der New York University DNA von 237 Personen, deren beide Großelternpaare einer der drei jüdischen Gemeinschaften der osteuropäischen Aschkenasim, italienisch-griechisch-türkischen Sefarden oder syrischen Mizrachim angehören. Verglichen wurden die Ergebnisse mit dem Erbgut von 418 Nichtjuden. Die Forscher untersuchten nicht das gesamte Erbgut, sondern vor allem besonders charakteristische Stücke der DNA, sogenannte SNPs (small nuclear polymorphisms, gesprochen »Snips«). Jeder SNP steht für eine Variation in der DNA, die in manchen Volksgruppen häufiger vorkommt als in anderen. Vergleicht man ausreichend viele SNPs – hier über 200.000 –, lässt sich abschätzen, mit welchen Volksgruppen eine Person verwandt ist.

»Die Studie stützt die Idee eines jüdischen Volkes mit gemeinsamer genetischer Historie«, sagt Ostrer, Leiter der Studie, die vor zwei Wochen im »American Journal of Human Genetics« veröffentlicht wurde. So sind die 237 jüdischen Testpersonen untereinander stärker verwandt als mit den nichtjüdischen Populationen der Regionen, aus denen Aschkenasim, Sefardim oder Mizrachim stammen. Dennoch hat es Genaustausch gegeben: »Die Durchmischung mit Europäern erklärt, warum so viele europäische und syrische Juden blaue Augen und blonde Haare haben«, sagt Ostrer. So haben zum Judentum konvertierte Khasaren (ein Turkvolk am Kaspischen Meer) ihre genetische Signatur im Erbgut der Aschkenasim hinterlassen. Das sefardische Erbgut hat zwischen 711 und 1492 in Spanien und Nordafrika maurische Prägung erfahren.

Verstreut Politisch relevant könnte sein, dass die Forscher die Ahnen der untersuchten Juden tatsächlich im Nahen Osten verorten – aufgrund des Verwandtschaftsgrades mit den dortigen Volksgruppen. Die »genetische Kontinuität zwischen jüdischen Gemeinden und zeitgenössischen nichtjüdischen Populationen der Levante« sei »signifikant«, heißt es auch in einer zweiten Studie, die ebenfalls Anfang Juni im Fachmagazin »Nature« veröffentlicht wurde. Darin kommt das internationale Forscherteam des Evolutionsbiologen Richard Villems von der Universität Tartu in Estland sogar zu dem Schluss, dass die untersuchten Gemeinden wohl gemeinsame Vorfahren mit Zyprioten und Drusen teilen.

Der Beginn der Diaspora lässt sich anhand der genetischen Spuren auf vor etwa 2.500 Jahren terminieren. Damit bestätigen die Forscher die in der jüdischen Mythologie beschriebene Diaspora. Demnach sind nach der Zerstörung des jüdischen Staates durch den babylonischen König Nebukadnezar 586 v.d.Z. die Stämme Israels zunächst nach Babylon und Ägypten und dann über die Welt zerstreut worden. Ihre gemeinsame Abstammung blieb dabei in erstaunlichem Maße im Erbgut erhalten, obwohl die Stämme während der Jahrhunderte weitgehend isoliert voneinander blieben. Dazu trug wohl auch bei, dass es verhältnismäßig wenig Genaustausch mit den jeweiligen Nachbarn gab – sei es nun durch Ausgrenzung oder kulturelle Isolation.

Doch offenbar blieben nicht alle Stämme in der Diaspora so isoliert. Villems untersuchte jüdische Erbgutproben aus 14 Gemeinden, darunter auch solche in Äthiopien (Beta Israel) und Indien (Bene Israel und Cochini). Seit Langem rätseln Historiker, inwieweit diese Populationen im Zuge der Diaspora »verlorene« und damit genetisch verwandte Stämme repräsentieren. Eine Frage, die durchaus politische Dimensionen hat, da es auch um das Anrecht dieser Juden auf die israelische Staatsbürgerschaft geht. Generell stellt Villems sowohl für die indische als auch die äthiopische jüdische Gemeinde eine größere Ähnlichkeit mit den benachbarten nichtjüdischen Bevölkerungen fest als mit anderen Juden.

Zumindest die Juden im indischen Mumbai zeigten jedoch eine gewisse Verwandtschaft mit Bevölkerungsgruppen in der Region der Levante. Für die äthiopischen Juden könne er jedoch noch »keine klare Antwort« liefern, so Villems. Mit Sefardim und Aschkenasim scheinen sie nicht verwandt zu sein, jedoch weise ihr Erbgut gewisse Ähnlichkeiten mit semitischen Völkern auf. Ob sich diese Ähnlichkeit auf Israeliten beschränkt oder auf Semiten generell bezieht, kann Villems bislang nicht beantworten. Aber da sich die semitische Sprache der jüdischen Äthiopier aus Vorläufern der kanaanaischen Sprachen wie Hebräisch, Ugarit und Aramäisch entwickelt habe, wundere es ihn nicht, dass »die äthiopischen Juden viele genetische Variationen mit anderen Juden teilen«.

Doch in einem unterscheiden sich die Ergebnisse von Genforschung und Schriftenstudium nicht: Sie sind Gegenstand von Interpretationen in der Gegenwart. So werden die einen die genetische Einheit der jüdischen Gemeinden betonen, während andere die nichtjüdischen Einflüsse in den Vordergrund rücken werden. Ohnehin: »Judentum wird nicht genetisch bestimmt«, betont Villems, »darüber entscheiden Tradition und Religion«. Und Politik.

PAZ: Japaner bleiben lieber unter sich

Japaner bleiben lieber unter sich

Tokio hält Einwanderer bewusst fern – Nur kleine Gruppen von Chinesen, Nordkoreanern und Thailändern
Nordkoreanern auf dem Leim gegangen: Pachinko-Spielautomaten werden von der Minderheit kontrolliert. Foto: f1-online

Zuwanderung als Antwort auf eine alternde Gesellschaft? Die Japaner, die ähnliche demographische Probleme haben wie Deutschland, halten wenig von dieser Idee.

Japan ist keine multikulturelle Gesellschaft und will auch keine werden. Die Probleme des Westens mit nicht integrationsfähigen oder -willigen Immigrantenströmen sind für die japanischen Ministerien und die politischen Entscheidungsträger abschreckend genug. Auch die demographische Krise ist kein Motiv für eine liberalere Einwanderungspolitik.
Derzeit leben rund zwei Millionen Ausländer im 127 Millionen Einwohner zählenden Japan. Die Hälfte sind ethnische Chinesen und Koreaner, zumeist Nachfahren der zweiten oder dritten Generation ehemaliger Zwangs- oder Fremdarbeiter, die in den Nachkriegswirren beschlossen hatten, nicht in ihre Heimat zurückzukehren. Die meisten sind in der japanischen Gesellschaft voll integriert, vom Parlamentsabgeordneten bis zum Bankpräsidenten. Ausnahmen sind die Parteigänger Nordkoreas, die große Teile der Pachinko-Industrie (bestimmte Art von Spielautomaten) kontrollieren und mit eigenen Schulen und Kulturzentren in Parallelgesellschaften leben, wo sie dem Kim-Kult huldigen. Dennoch enden viele nach ihrer von der Partei befohlenen Übersiedlung in das Arbeiter- und Bauernparadies, als japanische „Spione“ enttarnt und enteignet, bald elend in Strafarbeitslagern.
Ein weiteres Viertel der Ausländer besteht aus Brasilianern und Peruanern japanischer Herkunft (Nikkeijin), deren Vorfahren als arme Bauern aus Kyushu Ende des 19. Jahrhunderts als Siedler nach Lateinamerika ausgewandert waren. Ihr prominentester Vertreter war der peruanische Ex-Präsident Alberto Fujimori, den die Peruaner el Cinese nannten. Die Regierung hatte erwartet, dass jene Remigranten, die meist nur noch Spanisch oder Portugiesisch sprachen, aufgrund ihrer Gene und ihrem in Lateinamerika berühmten Fleiß, sich leichter in die japanische Gesellschaft integrieren würden als andere Nationalitäten, und ihre Immigration deshalb systematisch gefördert. Das Experiment gelang jedoch, ähnlich wie bei den Russlanddeutschen, nur in Ausnahmefällen, zu stark war die mittlerweile in der Ferne akkulturierte lautstarke Lebensart und das spontane Temperament der Latinojapaner von der nüchternen und konformistischen Lebensweise der alten Heimat entfremdet. Mit ihren Sprach- und Ausbildungsdefiziten und ihrem geringeren Leistungswillen blieb ihnen der Arbeitsmarkt bis auf die niedrigsten und am schlechtesten bezahlten Hilfsarbeiter- und Anlernjobs verschlossen. In der Krise von 2008/09 als erste arbeitslos geworden, zahlt die Regierung ihnen Prämien und den Rückflug unter der Auflage, sich sobald, das heißt mindestens drei Jahre, in Japan nicht wieder blicken zu lassen.
Während der „Seifenblasen-Ökonomie“ der 80er Jahre wurden einige Hunderttausend Asiaten aus China, den Philippinen, Vietnam, Indonesien, Thailand, aber auch aus Bangladesch, Sri Lanka, Iran und Pakistan mit befristeten „Trainee“-Visen ins Land gelassen. Da sie schmutzige und gefährliche Arbeiten machten, die die Japaner nicht länger tun wollten, wurden ihre Aufenthaltsüberschreitungen zunächst toleriert. Das galt und gilt auch für die eingewanderte Damenwelt, die zumeist als aus den Philippinen stammende „Japan-yuki“ in dem von den Yakuza kontrollierten und ausgebeuteten Nachtleben ein Auskommen findet.
Mit dem Ende des Baubooms und dem starken Anwachsen der japanischen Arbeitslosenzahlen setzte das Justizministerium die zügige Repatriierung der illegalen Ausländer durch. Ihre beginnende Ghettoisierung und kleinkriminelle Massentreffpunkte wie Omotesando, das damals schon Klein-Teheran genannt wurde, wurden aufgelöst und rückgängig gemacht. Xenophobie und Ausländerkriminalität gibt es deshalb in Japan weiter so gut wie nicht.
Akzeptiert dagegen wird die temporäre Immigration von Studenten, Sprachlehrern, qualifizierten Fachkräften und Akademikern für den Bedarf der japanischen Industrien und ausländischer Niederlassungen sowie von weiblichen Pflegekräften aus den Philippinen und Thailand, nach denen in Japans alternder Gesellschaft ein wachsender Bedarf besteht, und die diese aufreibende Aufgabe besonders gut zu meistern verstehen.
Ende der 80er Jahre, als die ersten ausländischen Jungmanager in progressiven Firmen engagiert wurden, wurde lauthals Klage geführt, dass Ausländer nie in japanische Führungsetagen und Vorstände vordringen würden. Heute leiten ein Brasilianer libanesischen Ursprungs, Carlos Goshn, Nissan und ein Amerikaner britischer Herkunft, Sir Howard Springer, Sony. Nicht zuletzt gibt nicht nur beim Sumo, im Fußball und an den Hochschulen ein unübersehbares Ausländerkontingent, es gibt sogar mit Marutei Tsurunen (eigentlich Martti Turunen) einen Oberhausabgeordneten der Demokratischen Partei finnischer Herkunft, der sich als Missionar hatte naturalisieren lassen. Ob er in der Bekehrung der politischen Kultur mehr Erfolg haben wird, ist noch nicht ausgemacht.
Das Staatsbürgerrecht beruht wie in Kontinentaleuropa auf dem ius sanguinis, der Abstammung von japanischen Eltern, und nicht wie in früheren Siedlungskolonien wie den USA auf den Zufälligkeiten des Geburtsortes. Die Bedingungen für den Erwerb der japanischen Staatsbürgerschaft erscheinen im Prinzip unschwer zu erfüllen: der ständige Wohnsitz in Japan während mindestens fünf Jahren, die Volljährigkeit, ein vorstrafenfreies Wohlverhalten, genügend Kapital oder Fähigkeiten, um sich selbst wirtschaftlich zu erhalten, sowie die Bereitschaft, die bisherige Staatsangehörigkeit aufzugeben. Das Justizministerium überprüft die Erfüllung dieser Kriterien während eines Jahres nach Antragseingang. Angesichts der teilweise vage formulierten Kriterien hat es den in Japan üblichen großen Ermessensspielraum für seine Entscheidung. Jugendliche mit doppelter Staatsangehörigkeit müssen sich bei Erreichen der Volljährigkeit (das heißt mit 21 Jahren) entscheiden, ob sie für die japanische Nationalität optieren oder nicht. Doppelstaatbürgerschaften sind, wie erwähnt, unzulässig. Als Liberalisierungsschritt wurde die Verpflichtung, einen japanischen Familiennamen anzunehmen, Ende der 80er Jahre abgeschafft.


Albrecht Rothacher

Veröffentlicht am 01.09.2010

Freitag, 3. September 2010

HB: Sparer-Aufruhr in Afghanistan: „Bald kommen sie mit Kalaschnikows“

Sparer-Aufruhr in Afghanistan: „Bald kommen sie mit Kalaschnikows“

Aufgebrachte Sparer stürmen Afghanistans größte Privatbank. Nach Fehlspekulationen mit Immobilien in Dubai wächst die Angst vor einer Schieflage.

BERLIN. Drogen, ausländische Soldaten und täglich ein Anschlag. Da mutet der Menschenauflauf vor der Kabul Bank bizarr an. "Nur 1 000 Dollar! Sie geben mir nicht mehr. Aber ich will mein ganzes Geld. Ich habe kein Vertrauen mehr", schreit Mahmud Wahidullah in die Kameras. Seit 8.30 Uhr hatte der 27 Jahre alte Chef einer Baufirma vor der Filiale der Kabul Bank im Herzen der afghanischen Hauptstadt angestanden. "Wir haben kein Geld. Komm morgen wieder", hätten die Schaltermitarbeiter ihm gesagt, als er das Firmenvermögen von seinem Konto abheben wollte - 50 000 Dollar.

Andere Kunden gehen ganz leer aus. Die Schlangen vor der Kabul Bank, dem größten Geldhaus des vom Krieg gegen die Taliban zerrissenen Afghanistan, werden täglich länger. "Noch kommen die Lehrer, die Gehaltskonten hier haben, mit Büchern im Arm und stellen sich friedlich an. Aber wenn die Soldaten kommen und ihr Geld wollen, kommen sie mit Kalaschnikows in den Händen", warnt ein Wartender.

Die Panik, das Ersparte zu verlieren, treibt viele Afghanen an die Schalter, seit bekannt wurde, dass die Kabul Bank 160 Mio. Dollar durch Immobilienspekulationen in Dubai verloren haben soll.

Deshalb wurden jetzt die beiden größten Aktionäre der Kabul Bank, Sherkan Farnud als Chairman und Chalilullah Ferozi als CEO, abgelöst. Und der Chef der afghanischen Zentralbank, Abdul Wadir Fitrat, ruft auf einer Pressekonferenz verzweifelt: "Die Bank ist solvent, sie ist solvent." Die Notenbank werde alles tun, um das mit 1,3 Mrd. Dollar Spareinlagen und 700 Mio. Dollar vergebenen Krediten größte Institut am Leben zu halten.

"Die Kabul Bank hat kein Problem mit Bargeld", ruft Fitrat in die Kameras. Und schiebt nach: "So Allah will." Vor allem Mahmud Karzai, Bruder von Staatspräsident Hamid Karzai und drittgrößter Aktionär der Privatbank, will die Probleme schnell in den Griff bekommen. Fällt die Kabul Bank, entlädt sich der Protest gegen den vom Westen gestützten Staatschef.

Bisher haben erst fünf Prozent der Afghanen ein Konto. Hit der 17 privaten Banken, die nach dem Sieg der Sowjets 1979 existieren, sind Qismat-Konten: Dort gibt es, ganz islamisch, keine Zinsen, aber dafür Verlosungen von Autos, Häusern und Bargeld. Die westlichen Staaten und Hilfsorganisationen lassen ihre Gelder übrigens über die Standard Chartered Bank in Kabul laufen.