Donnerstag, 16. Dezember 2010

HB: Was Schulen lehren, fällt hinter der Realität zurück

Was Schulen lehren, fällt hinter der Realität zurück“

Gerd Gigerenzer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, hatte die Idee für den ersten Indikator, der das minimale ökonomische Wissen erhebt. Der Psychologie-Professor hatte bereits einen Indikator für das minimale medizinische Wissen erarbeitet und stieß bei seiner Erhebung ebenfalls auf große Wissensdefizite.

Handelsblatt: Herr Prof. Gigerenzer, welches Ergebnis hat Sie am meisten überrascht?

Gerd Gigerenzer: Ich bin erstaunt darüber, dass herkömmliche Bildung kaum Einfluss auf das Wirtschaftswissen hat. Das zeigt der Vergleich unserer Daten mit den Pisa-Ergebnissen der Bundesländer. Selbst Personen, die in der Schule Wirtschaftskurse besucht haben, schneiden nur minimal besser ab als andere.

Wie erklären Sie sich, dass die Deutschen so wenig über Wirtschaft wissen?

Das, was in unseren Schulen gelehrt wird, fällt hinter der Realität und dem technischen Fortschritt weit zurück. Wir müssen die jungen Leute aber fit für die Zukunft machen, eben mit minimalem Wissen über Ökonomie, aber auch über Gesundheit. Und in diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, über Unsicherheit zu sprechen. In der Mathematik, welche an den Schulen gelehrt wird, sind alle Ergebnisse eindeutig und sicher, das ist für ein erstes Verständnis auch richtig und wichtig. Aber danach müssen wir auch vermitteln, wie wir mit Risiken und Wahrscheinlichkeiten umgehen.

Was wollen Sie ändern?

Wir müssen Politiker und Bürger aufrütteln. Wir wollen die Bildung der Bürger zum Thema machen. Wenn man mündige Bürger haben will, muss man was tun. Die kommen nicht von selbst. Nur wer die Welt mit ihren Risiken versteht, kann verantwortlich handeln. Und da hapert es einfach.

Fehlt es denn am politischen Willen oder am Interesse der Bürger?

Beides. Wir müssen die Politiker überzeugen, dass es sich lohnt, in lebenswirkliche Bildung der Bürger zu investieren, und die Bürger davon, dass sie das kleine Einmaleins der Ökonomie wirklich davor schützt, von Bankern, Versicherungen oder Marketingexperten hinters Licht geführt zu werden und dabei viel Geld zu verlieren. Aber auch die Medien sollten mehr darüber berichten, wie Verbraucher in die Irre geführt werden, und weniger darüber, wie die neueste Prognose irgendeines Instituts aussieht, die ohnehin nur von sehr begrenzter Aussagekraft ist.

Verlassen sich die Deutschen zu sehr auf Berater?

Das ist kein deutsches Phänomen. Aber das sich immer mehr verbreitende Phänomen des defensiven Entscheidens beunruhigt mich, und es schadet allen.

Können Sie das genauer erklären?

Egal ob Ärzte, Politiker oder Manager – sie wissen oft, dass A die richtige Lösung für ein Problem ist. Ist A aber riskant oder intuitiv, also nicht mit Fakten zu begründen, empfehlen sie ihren Patienten, Bürgern oder Kunden lieber eine durch Daten oder Prognosen abgesicherte Lösung B. Selbst wenn sie wissen, dass die B zugrunde liegenden Daten oder Prognosen nichts taugen, wollen und können sie sich dahinter verstecken.

Wie oft entscheiden denn Manager defensiv?

In mehreren internen Unternehmensstudien und auch bei Umfragen unter Ärzten haben wir herausgefunden, dass gut ein Drittel der Entscheidungen eine defensive Komponente enthält. In Familienunternehmen wird im Übrigen deutlich weniger defensiv entschieden.

Woran liegt das? Weil dort mit eigenem Geld gewirtschaftet wird?

Ja, auch. In jedem Fall ist dort die Angst vor Bauchentscheidungen weit weniger verbreitet. Unternehmerische Erfahrung und Intuition sind ja mindestens genauso wichtig wie statistische Fakten. Der Respekt für Erfahrung, aber auch für das Lernen aus Fehlern ist in Familienunternehmen mehr kultiviert worden. Wer Fehler macht, fliegt in diesen Unternehmen nicht gleich raus, und man muss nicht unnötig Geld und Zeit in Beratungsunternehmen investieren, um sich persönlich abzusichern, falls einmal etwas schiefgeht.

Was können wir daraus lernen?

Gutgläubigkeit ist der Versuch, Verantwortung abzugeben. Wer dagegen eine selbst informierte Entscheidung treffen will, braucht auch Mut, zum Beispiel eben nicht auf den Bankberater zu hören, weil dieser eigene Interessen hat. Dafür braucht man kein Wirtschaftsstudium, sondern nur einige Grundkenntnisse, wie Wirtschaft funktioniert.

Herr Prof. Gigerenzer, herzlichen Dank für das Gespräch.

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