Donnerstag, 21. Oktober 2010

Wulffs Republik der Gläubigen

Wulffs Republik der Gläubigen

Der Bundespräsident betreibt vor der türkischen Nationalversammlung Verharmlosung auf höchstem Niveau und redet der Rückkehr der Religion in die Politik das Wort. Seine Rede ist historisch unrichtig und stellt die säkulare Republik in Frage. Die Medien sehen nur die Oberfläche. Eine Replik von Necla Kelek.

Ein unsicherer Redner: Christian Wulff vor dem türkischen ParlamentEin unsicherer Redner: Christian Wulff vor dem türkischen Parlament

21. Oktober 2010

Als ich sah, wie Christian Wulff in Ankara im türkischen Parlament mit vorsichtigen Schritten zum Rednerpult ging, hatte ich nicht den Eindruck, hier trete der Präsident der Bundesrepublik Deutschland auf. Die tastenden kurzen Schritte, ein Blick, der nicht auf das, was vor ihm lag, gerichtet war, sondern stur geradeaus sah. Er schien Furcht vor falschen Worten zu haben. Vielleicht war er zu sehr beeindruckt von der martialischen Kulisse des Anit Kabir in Ankara, des Grabmals Atatürks, das größer ist als die Akropolis in Athen, wo er kurz zuvor einen Kranz niedergelegt hatte. Oder vom militärischen Aufmarsch, bei dem er den Vorwand bot, dass erstmals eine verschleierte Präsidentengattin auftreten konnte. Ich sah einen vorsichtigen Mann am Pult stehen.

Die Rede – unbetont und schnell abgelesen – beginnt mit Rückgriffen in die deutsch-türkische Geschichte, welche die „Entwicklung unserer Nationen immer wieder bereichert haben“. So beschreibt er die militärischen Beziehungen und die Waffenbrüderschaft der Hohen Pforte und des Kaiserreichs; Kaiser Wilhelm, der auf die „islamische Karte“ gegen England setzte, die deutschen Militärs, die als Waffenbrüder im Ersten Weltkrieg kämpften und deren „Bereicherung“ unter anderem in der logistischen Unterstützung der Jungtürken bei der Organisation des Genozids an den osmanischen Armeniern bestand. Die ethnische Säuberung war dann die Voraussetzung der türkischen Republikgründung, ohne die Christen und Juden, also ohne die „Ungläubigen“.

Besonderen Dank richtete Wulff an die Türken, die 1933 fast tausend von den Nazis mit Berufsverbot belegten Mitgliedern der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler Arbeit bot. Unerwähnt ließ er, dass dies ab 1940 in der Zeit der größten Not nicht mehr für Juden, sondern nur noch für jene galt, die einen Ariernachweis vorweisen konnten. Atatürks Nachfolger, Staatspräsident Ismet Inönü, sagte, die Türkei biete kein Asyl für „Menschen, die anderswo unerwünscht sind“. So viel zum historischen Teil dieser Rede.

Verharmlosung auf höchstem Niveau

Nach einigen allgemeinen Anmerkungen zur internationalen Lage kommt Christian Wulff dann auf das besonders beachtete Thema der Türken in Deutschland zu sprechen. Durchaus offen spricht er die Erfolge und Probleme an, formuliert „Verharren in Staatshilfe, Kriminalitätsraten, Machogehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung“, die aber „beileibe nicht nur Probleme von und mit Einwanderern sind“, um im nächsten Atemzug hinterherzuschicken: „Niemand muss und soll seine kulturelle Identität aufgeben oder seine Herkunft verleugnen.“ Wer eine solche argumentative Gemengelage von schlichten Gemeinplätzen fabriziert und damit der Analyse entzieht, verschleiert mehr, als er benennt. Wer Sozialbetrug als „Verharren in Staatshilfe“ verniedlicht, der kann nicht ernsthaft davon ausgehen, dass die Aufforderung, dass sich Migranten an die geltenden Regeln halten müssen, durchgesetzt werden könnte. Das ist Verharmlosung von Problemen auf höchstem Niveau.

Der Satz „Die Türkei kann zeigen, dass Islam und Demokratie, Islam und Rechtsstaat, Islam und Pluralismus kein Widerspruch sein müssen“ ist, das wollen wir dem Präsidenten anrechnen, kritisch zu lesen. „Kann zeigen“ ist die Möglichkeitsform, nicht die Realität, denn tatsächlich sind die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit der Türkei noch sehr weit von dem entfernt, was in Europa unter einem Bürger- oder Rechtsstaat verstanden wird. Wenn es denn so gemeint war, hätte er konkreter werden müssen.

Verstörende Analogie

Am meisten beachtet wurden am Schluss der Rede die Ausführungen zum Islam in Deutschland und zu den Christen in der Türkei. Die zwei Wochen zuvor gemachte Bemerkung „Der Islam gehört zweifelsfrei zu Deutschland“ spiegelt er mit „Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei“. Als seien dies zwei Seiten derselben Medaille. Einmal davon abgesehen, dass die Muslime in Deutschland keine „Minderheit“ sind, sondern Teil dieser Gesellschaft und mit fast 3000 Gebetsstätten und ebenso vielen Vorbetern religiös so gut versorgt wie die Christen. Die Christen in der Türkei aber sind immer noch eine unterdrückte Minderheit, die im Osten des Landes sich hinter hohen Mauern verstecken muss und deren Kirchen oft nur als Museen zugänglich sind. Und wie alle Nicht-Sunniten sind sie Diskriminierungen ausgesetzt. Diese Gleichsetzung ist verstörend und falsch.

Hier werden rhetorisch nicht nur Granatäpfel mit Williamsbirnen verglichen, hier lobt und versteht der Bundespräsident und redet der Rückkehr der Religion als Kategorie der Politik das Wort. Sind wir keine Deutschen, Türken, sondern zuerst Christen, Juden oder Muslime; keine Bürger, sondern Gläubige oder Ungläubige? Ist das die Mission des Pro-Christ-Katholiken Christian Wulff?

Wenn die Rückkehr des Glaubens in die Politik die präsidiale Botschaft aus Ankara ist, dann stehen wir vor einem neuen Religionsstreit in unserem Staat. Und der Präsident hat ihn weit hinten in der Türkei in schlichter Rede vom Zaun gebrochen.

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