Montag, 8. November 2010

FAZ: Taktische Politik

Taktische Politik

Wer hat Angst vor der Bürgereinschaltung?

Die Castoren rollen, das Wendland kettet sich an, Stuttgart wankt, und die Politik wird zum Opfer ihrer eigenen Redensarten. Die Bürger protestieren nicht einfach nur gegen Inhalte, sondern auch gegen den rein taktischen Umgang mit ihnen.

Von Jürgen Kaube

Angela Merkel gestikuliert vor einer Aufzeichnung der Talkshow “Maybrit Illner“Angela Merkel gestikuliert vor einer Aufzeichnung der Talkshow "Maybrit Illner"

08. November 2010


Als Angela Merkel in diesem Sommer ihre „Energie-Reise“ durch Deutschland machte, kam sie zum Abschluss nach Darmstadt. Von dort erreichte uns wenig später ein Anruf. Die Anruferin, eine Dame Anfang siebzig, berichtete vom Auftritt der Kanzlerin. Man habe diese auch nach der Atomenergie und den Laufzeiten gefragt, und die Kanzlerin habe sinngemäß geantwortet, Genaues könne sie noch nicht sagen. Das Gutachten, das dazu in Auftrag gegeben worden sei, liege nämlich erst seit heute, dem Tag des Besuchs in Darmstadt, vor. Das fand die Anruferin erstaunlich. „Wieso macht die Kanzlerin eine Reise mit dem Thema Energiepolitik, wenn sie noch nicht sagen kann, welche Energiepolitik sie vorhat?“ Und nach einer kurzen Pause: „Aber vielleicht war sie ja genau deshalb in Sachen Energiepolitik unterwegs, weil noch kein Gutachten vorlag. Sie wollte noch so tun, als sei alles offen. Sie wollte noch nichts sagen können.“

Die Anruferin war keine Sozialwissenschaftlerin. Gespräche über Medientheorie, Diskursethik, „performative Widersprüche“ oder „symbolische Politik“ führt sie genau so oft, wie sie Machiavelli oder Luhmann liest, nämlich nie. Man darf ihre Beobachtung darum als Hinweis darauf nehmen, wie reflexiv Politik inzwischen von ganz normalen Bürgern wahrgenommen wird. Selbst in der Mitte der Gesellschaft traut man der Politik inzwischen einen rein taktischen Umgang mit den Bürgern zu. Selbst dort fragt man nicht mehr, was sie sagen, sondern warum sie es wohl sagen. Die Proteste in Stuttgart, Hamburg, Gorleben sind insofern nicht nur Proteste in der Sache. Sie betreffen viel mehr die Form von Politik.


Schule des Misstrauens in Politik

Angela Merkel während ihrer Energie-Reise auf der Baustelle des Steinkohlekraftwerks in LünenAngela Merkel während ihrer Energie-Reise auf der Baustelle des Steinkohlekraftwerks in Lünen

Dabei sind es gar keine prinzipiellen Enthusiasten des Dialogs, gar der Volksabstimmung, die sich empören. Nicht, dass Politiker zu ihnen reden anstatt mit ihnen, lautet also die Beschwerde. Jeder verständige Bürger kann nachvollziehen, dass Ideale des Dialogs an der Politik scheitern. Aber an der Politik bleibt derzeit hängen, dass sie selber einen ganz strategischen Gebrauch von diesen Idealen macht, die sie hochhält, um sie zugleich in ihrem Handeln zu dementieren. Politiker, so der Eindruck, suchen den Dialog beispielsweise genau dann, wenn sie wissen, dass es gar keine Voraussetzungen für ihn gibt – damit der Eindruck des Dialogs bestehen bleibt, ohne den Preis des Dialogs in Kauf nehmen zu müssen.

Das Modell dafür ist das Genehmigungsverfahren für Großprojekte. Oder eine Schulreform. Oder eine Hochschulreform. Oder eine Rechtschreibreform. Oder Europa. Immer geht es angeblich um vitale Probleme unserer Gesellschaft, aber ständig irrt sich das Volk in ihnen so sehr, dass man es – bei der Verfassung nach 1989, beim Euro, bei Maastricht, bei Integrationsfragen, bei der Atomenergie oder beim Schulsystem – nie in der Sache fragen darf.

Vorwurf an die Massenmedien

Die Urszene für diese „Bürgerausschaltung“ (Peter Sloterdijk) im Modus der Bürgereinschaltung ist die Talk Show: Reden als gehe es um Verständigung und Kenntnisnahme. Das Anschauen von Talk Shows, das offenkundig niemandem aus Gründen der politischen Information einfiele, ist eine Schule des Misstrauens in Politik geworden. Gerade so, wie es der amerikanische Soziologe Joshua Meyrowitz einst diagnostiziert hatte: Das Fernsehen setzt Autoritäten Belastungstests aus, die sie nicht unbeschadet überstehen. Man sieht zum Beispiel wie sie über Demokratie denken, während sie das Gegenteil davon sagen. Man sieht es, weil der Zynismus, noch die Talk-Show-Fassung eines Arguments, die Phrase also, sei gut genug für die Masse, nicht verborgen bleibt. Sie wissen immer schon, was sie gesagt haben werden. Und also lernen es auch die Bürger. Und also entsteht der Verdacht, dass Politiker endlose Stunden vor Kameras gerade deshalb verbringen, weil dort niemand ihr Werte-Phrasen-Zukunfts-Vokabular unterbricht.

Das enthält auch einen Vorwurf an die Massenmedien. Er trifft jedenfalls dort, wo sie nicht über Politik berichten, sondern sich am Werteredenaustausch-Spiel beteiligen. Wenn sich eine Bürgerin fragt, weshalb die Kanzlerin denn kam, obwohl sie nichts zu sagen hatte, tut sie es ja auch deshalb, weil kein Journalist die Frage gestellt hat. Dass der Streit um „Stuttgart 21“ zu einem neuen Sendeformat geführt hat, der öffentlichen Anhörung nach Abschluss des Verfahrens nämlich, unterstreicht, dass auch die Medien unterhalb ihrer demokratischen Möglichkeiten leben.

Text: F.A.Z.
Bildmaterial: dpa, Reuters

Keine Kommentare: