Dienstag, 10. Mai 2011

FAZ: Szenario Bin Laden vor Gericht

„Prozess“ gegen Bin Ladin

Der Angeklagte

Was wäre passiert, wenn die Amerikaner Usama Bin Ladin vor Gericht gestellt hätten - anstatt ihn einfach zu erschießen? Wo hätte man ihn inhaftiert, was hätte man ihm vorwerfen können? Ein Szenario.

Von Marcus Jauer

10. Mai 2011 2011-05-10 11:59:48


Am frühen Morgen des 2. Mai 2011 dringt ein Team der Navy Seals, einer Spezialeinheit der amerikanischen Marine, in ein Anwesen in der pakistanischen Stadt Abbottabad ein. Nach kurzem Feuergefecht, bei dem zwei Männer und eine Frau sterben, stürmen die Soldaten in das oberste Stockwerk des Hauses. Dort finden sie in einem Raum Usama Bin Ladin, unbewaffnet auf einem Bett sitzend. Er hat eine Pistole vom Typ Makarow und ein Sturmgewehr vom Typ AK-47 in Reichweite liegen, greift aber nicht danach. Die Soldaten nehmen ihn gefangen und bringen ihn zu den Hubschraubern, mit denen sie im Garten des Hauses gelandet waren. Nach weniger als vierzig Minuten ist der Einsatz beendet, die zehn Jahre lange Jagd nach dem meistgesuchten Terroristen der Welt vorbei.

Wenig später tritt in Washington Präsident Barack Obama vor die Fernsehkameras und verkündet, dass es Amerika gelungen sei, den Führer und das Symbol von Al Qaida zu finden, einer Terrororganisation, die für die Anschläge vom 11. September 2001 und damit für den Tod von dreitausend Menschen verantwortlich sei. Schon kurz nach seinem Amtsantritt habe er den Direktor der CIA angewiesen, die Gefangennahme oder Tötung Usama Bin Ladins zur obersten Priorität im Kampf gegen den Terror zu machen. Heute, so Obama, danke er all den unzähligen Agenten und Terrorismusbekämpfern, die nun die Befriedigung ihrer Arbeit verspürten. „Der Gerechtigkeit wird Genüge getan werden.“

Die Illustratorin Janet Hamlin ist bei den Militärprozessen in Guantanamo seit April 2006 die Gerichtszeichnerin für die Weltpresse. Für diese Zeitung hat sie nun Usama bin Ladin vor die “military commission“ gestellt.
© Archiv
Die Illustratorin Janet Hamlin ist bei den Militärprozessen in Guantanamo seit April 2006 die Gerichtszeichnerin für die Weltpresse. Für diese Zeitung hat sie nun Usama bin Ladin vor die „military commission” gestellt.

Usama Bin Ladin befindet sich zu diesem Zeitpunkt auf der „USS Carl Vinson“, einem amerikanischen Flugzeugträger, der im nördlichen Teil des Arabischen Meeres kreuzt. Dort wird er einem Gentest unterzogen, dessen Ergebnis mit DNA aus dem Hirn seiner in Amerika an Krebs verstorbenen Schwester verglichen wird und ihn als Usama Bin Ladin identifiziert. Nach internationalem Recht gilt er als staatenlos, seit ihm Saudi-Arabien, wo er in Riad vor 54 Jahren geboren wurde, 1994 die Staatsbürgerschaft entzogen hatte. Seit April 1998 wird er von Interpol mit internationalem Haftbefehl gesucht, das FBI zählt ihn unter die zehn meistgesuchten Personen weltweit. Für die Amerikaner gilt er als Staatsfeind Nummer 1, was allerdings mehr über seinen medialen Status aussagt als über seinen juristischen.

Für das amerikanische Recht ist Usama Bin Ladin weder ein herkömmlicher Verbrecher noch ein Kriegsgefangener, der nach den Regeln der Genfer Konvention zu behandeln wäre. Das Land führt seinen Kampf gegen Al Qaida zwar als Krieg gegen den Terror, erkennt die Mitglieder des Netzwerkes aber nicht als rechtmäßige Kriegsteilnehmer an, da sich Al Qaida ihrerseits nicht an die Regeln des Kriegsvölkerrechts hält. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat die amerikanische Regierung für diese Gegner einen eigenen Status eingeführt, der ihnen weder die Rechte eines Zivilisten noch die eines Kriegsteilnehmers gewährt. Sie sind „unprivileged enemy belligerentsund werden an einen Ort gebracht, der weder auf amerikanischem Staatsgebiet liegt noch im Ausland und damit in einer Zwischenwelt wie sie selbst. Es ist das Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba.

Gerichtsstand Guantanamo?

Das Lager wurde Anfang 2002 eröffnet, zuerst als Camp X-Ray, in dem die Gefangenen zum großen Teil in Käfigen und ungeschützt vor Sonne und Regen untergebracht waren. Als das Lager vier Monate später nicht mehr ausreichte, wurde es durch Camp Delta ersetzt, in dem zwischenzeitlich fast achthundert Menschen festgehalten wurden. Innerhalb des Camp Delta gibt es einen Block namens Camp Echo mit den zwanzig Einzelzellen und dem Vernehmungszimmer. Es ist ein kaum zehn Quadratmeter großer Raum, in dem für gewöhnlich drei schwarze Bürostühle mit Rollen stehen, einer für den Ermittler, einer für den Übersetzer und einer für den Verdächtigen. Vor seinem Stuhl ist ein Stahlring in den Boden eingelassen, an dem er bei Bedarf angekettet werden kann. Pro Tag sind bis zu fünfzehn Stunden Verhör zugelassen, fünf Stunden ununterbrochener Schlaf dazwischen sind garantiert. Nach Auskunft der Vernehmer ist es im Allgemeinen so, dass nach einem gewissen Schub in der ersten Phase der Befragungen die Informationen später spärlicher flössen und zumeist technischer Natur seien, manchmal gelinge bei den Verhören ein Durchbruch erst nach vielen Monaten zumeist fruchtloser Fragerei.

Als Usama Bin Ladin nach seiner Gefangennahme in Guantánamo ankommt, gibt es im Lager noch 172 Insassen. Etwa hundert von ihnen sollen in ihre Heimatländer oder in Drittstaaten abgeschoben werden, wie das inzwischen mit der Mehrzahl der Insassen geschehen ist. Etwa fünfzig bleiben in Haft, allerdings ohne Verfahren, sie gelten zwar als gefährlich, womöglich lassen sich die Beweise dafür aber vor einem Strafgericht nicht verwenden. Der Rest, drei Dutzend Gefangene, soll einen Prozess vor einem Tribunal bekommen, das sich „military commission“ nennt. Dazu wurde auf einem Hügel über dem alten Militärflugplatz des Lagers ein Camp Justice errichtet, darin steht ein langes, zweistöckiges Gebäude, dessen Wände einen fensterlosen Gerichtssaal einschließen, der, ausgestattet mit Richterbank, Fahnen und dunkelrotem Teppich, wie ein ganz normaler amerikanischer Gerichtssaal aussieht, es aber nicht ist.

Gelten Beweise aus Folterverhören?

Bei einem Prozess vor einer „military commission“ hat der Angeklagte weniger Rechte als vor jedem anderen amerikanischen Gericht. Das beginnt mit den Mitgliedern dieser Kommission, die keine unabhängige Jury sind, sondern im Dienst der amerikanischen Streitkräfte stehen und vom Verteidigungsministerium benannt werden. Ein ziviler Verteidiger ist erlaubt, muss aber auch zugelassen werden und hat keinen Anspruch auf volle Akteneinsicht. Wenn Informationen der Anklage als bedeutend für die nationale Sicherheit eingestuft werden, weil sie beispielsweise aus geheimdienstlichen Quellen stammen, kann dem Anwalt der Zugang zu diesen Dokumenten verwehrt werden. Gleichzeitig aber ist die Anklage berechtigt, Beweise einzuführen, die vor einem zivilen Gericht nicht erlaubt wären.

Das betrifft Informationen, die nur vom Hörensagen stammen; wie die durch Wikileaks veröffentlichten Geheimdokumente zeigen, beziehen sich die Anschuldigungen gegen die 225 Gefangenen allein auf die Aussagen von acht Mitgefangenen oder Informationen, die durch Druck erlangt wurden; wie bei Chalid Scheich Mohammed, der als Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001 gilt und während seiner Verhöre insgesamt 183 Mal dem „waterboarding“ unterzogen wurde, einer Methode, bei der das Ertrinken simuliert und die zumeist angewandt wird, bevor die Gefangenen nach Guantánamo kommen, entweder auf dem Weg dorthin, im Bauch eines Schiffes oder in geheimen Lagern. Geständnisse, die der Gefangene unter Druck geleistet haben will und darum später widerruft, kann das Tribunal unter Umständen dennoch weiterhin als gültig betrachten. Das alles würde es vor einem amerikanischen Zivilgericht nicht geben, was für die Regierung ja der Grund gewesen war, sich mit den „military commissions“ diese andere Gerichtsbarkeit zu schaffen.

Warum kein ordentliches Gericht?

Bevor Barack Obama amerikanischer Präsident wurde, versprach er, das Gefangenenlager von Guantánamo innerhalb eines Jahres aufzulösen. Als er gewählt war, ließ er die Haftgründe für jeden Gefangenen einzeln überprüfen und verlagerte die Zuständigkeit dafür vom Pentagon ins Justizministerium. Er unterbrach die Arbeit der „military commissions“ und ließ nach einem Hochsicherheitsgefängnis auf dem amerikanischen Festland suchen, in das die Gefangenen verlegt werden sollten, damit das Lager geschlossen werden konnte. Man fand es in dem kleinen Ort Thomson im Nordwesten von Illinois, in dessen Anstalt von 1600 Zellen nur etwa 200 belegt waren. Den Prozess gegen die Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001, Chalid Scheich Mohammed und vier Mitgefangene, wollte Barack Obama vor ein Bundesgericht nach New York holen, wo das World Trade Center gestanden hatte.

Ein solcher Prozess hätte für den amerikanischen Staat verschiedene Risiken gehabt. Er wäre in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit geraten, wie das auf Guantánamo nie möglich war, wo die Presse beim kleinsten Verdacht, es würde in der Anhörung um Informationen gehen, welche die nationale Sicherheit berühren, in der Regel ausgeschlossen wurde. Er hätte es der Anklage nicht erlaubt, Beweise einzuführen, die durch Druck erlangt wurden, ebenso wie Beweise, die sich aus diesen Beweisen ergeben, da sie als „fruit of the poisonous tree“ gelten. Er hätte es den Angeklagten gestattet, sich besser zu verteidigen oder die Verteidigung für Hetzreden und Propaganda zu nutzen. Er hätte das Problem gezeigt, in diesem Fall eine unabhängige Jury zu finden, er hätte einen riesigen Aufwand an Sicherheitskräften und Verbarrikadierung erfordert und hätte bei alldem nur einen Vorteil gehabt: Er wäre rechtsstaatlich gewesen.

Wie lautet überhaupt die Anklage?

Einen solchen Prozess jedoch haben die Bürger von New York mehrheitlich abgelehnt, sie fürchteten, ihre Stadt könne abermals zum Ziel eines Anschlages werden, auch die Republikaner waren dagegen. Der Kongress weigerte sich, Geld für den Umbau des Hochsicherheitsgefängnisses in Thomson zu bewilligen, und verbot dem Präsidenten, ranghohe Terrorverdächtige ohne die Zustimmung des Parlaments nach Amerika zu verlegen. Deshalb fliegen seit einiger Zeit wieder Richter, Ankläger, Verteidiger, Journalisten und Hinterbliebene nach Camp Justice auf Guantánamo, wo die „military commissions“ ihre Arbeit, anders als von Barack Obama versprochen – wiederaufgenommen hatten. Noch bevor Usama Bin Ladin in Pakistan gefangen genommen wurde, war die Stelle, an der er das amerikanische Rechtssystem betreten würde, markiert. Den Weg hinein legt er an jedem Verhandlungstag von seiner Zelle aus an Händen und Füßen gefesselt zurück, von Ohrenstöpseln taub und einer geschwärzten Brille orientierungslos gemacht.

Zehn Jahre lang war Usama Bin Ladin als der mächtigste Terrorist der Welt verfolgt worden, doch erst der anstehende Prozess bringt die Frage auf, was genau ihm vorzuwerfen ist. Die einzige Klage, die gegen, ihn vorbereitet war, stammt vom Juni 1998, ausgestellt vom Bundesgericht in Manhattan. Sie hatte ursprünglich nur acht Seiten Länge, legt die damals noch eher kurze Geschichte von Al Qaida dar und beschreibt ihn als deren Führer, der sich 1993 der Mithilfe am Mord von achtzehn amerikanischen Soldaten in Mogadischu schuldig gemacht haben soll. Später wird die Schrift um die Bombenanschläge auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam erweitert, bei denen 224 Menschen starben und einige tausend verletzt wurden und den Anschlag auf den Flugzeugträger „USS Cole“ im Hafen von Aden, bei dem siebzehn Soldaten starben. Die Anschläge auf die Botschaften finden sich auch im Steckbrief des FBI, das auf den Kopf von Usama Bin Ladin fünfundzwanzig Millionen Dollar ausgesetzt hat. Von einer Beteiligung an den Anschlägen vom 11. September 2001, wegen denen die Amerikaner doch in Afghanistan einmarschiert waren, um Al Qaida zu zerschlagen, steht da nichts. Der Mann, der dafür angeklagt worden ist, heißt Chalid Scheich Mohammed. Konnte es sein, dass man Usama Bin Ladin das Verbrechen, das ihn in der Welt bekannt gemacht hatte, gar nicht nachweisen kann?

Wie wird er sich verteidigen?

Noch bevor die Ungeheuerlichkeit dieser Frage in der Öffentlichkeit Raum greifen kann, wird im Gerichtssaal die Anklage vorgetragen. Sie lautet auf Verschwörung gegen Amerika und beschreibt, dass Usama Bin Ladin von den Anschlägen gewusst, sie finanziert und geplant hat. Im Verlauf des Prozesses werden auch die Bekennervideos gezeigt, in denen sich Usama Bin Ladin zu den Anschlägen äußert und die von der amerikanischen Regierung bislang als stärkste Hinweise darauf gewertet wurden, dass er hinter dem Fall der Zwillingstürme steckt.

Es waren in den Jahren der Suche nach Usama Bin Ladin zwar immer wieder einmal Zweifel an der Echtheit der Videos aufgekommen, ebenso wie an der Richtigkeit der Übersetzung des zum größten Teil akustisch schwerverständlichen Inhalts, doch diese spielen im Prozess keine Rolle. Die Verteidigung hätte sie vorbringen müssen, aber Usama Bin Ladin verzichtet auf eine Verteidigung. Die Einschränkungen, welche die Militärgerichtsbarkeit ihm als Angeklagten auferlegt, scheinen ihn nicht zu stören. Es wirkt, als sei sowohl der Anklage als auch ihm daran gelegen, dass er der größte Terrorist der Welt gewesen ist. Das Urteil nahm er gelassen auf.

Der juristische Hintergrund für das Szenario ergab sich aus Gesprächen mit Emily Silverman, Referatsleiterin am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, Claus Kreß, Inhaber des Lehrstuhls für deutsches Strafrecht, europäisches Strafrecht, Völkerstrafrecht sowie für Friedenssicherungs- und Konfliktvölkerrecht an der Universität zu Köln, sowie Bernhard Docke, Anwalt für Strafrecht in Bremen und Verteidiger des ehemaligen Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz.

Text: F.A.Z.
Bildmaterial: Archiv

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